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Gerade gelesen

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Diese Geschichte braucht etwas mehr als eine Kurzbesprechung, denn sie ist – zumindest nach den ersten beiden Bänden – etwas ganz Besonderes. Und man wird ihr nicht gerecht, wenn man versucht, den Inhalt zusammenzufassen und ein kurzes Urteil abzugeben, sei es auch noch so wohlwollend. Also werde ich einmal beispielhaft den Versuch unternehmen, zu erklären, wie dieses Buch dermaßen überzeugen kann. Denn ganz offensichtlich ist es ja nicht – oder zumindest nicht nur und nicht auf den ersten Blick – die Story, der Plot, der Inhalt. Nach meinem ersten Blick in das Buch dachte ich: Wow, das hat alles, was mich nicht interessiert: Prinz in einer nicht näher benannten Vergangenheit, Seefahrt, Königreiche und womöglich Schlachten und Kämpfe. Aus einem mir nicht klaren Grund habe ich trotzdem angefangen zu lesen und war nach drei Seiten gefesselt. Demnach hat es mit der Form zu tun? Abgesehen davon, dass es spannend, mitreißend, klug und witzig ist: unbedingt, ja, es hat mit dem Aufbau, der Art zu erzählen, den Personen zu tun. Da mir ein Vergleich zur Originalversion unmöglich ist, kann ich nur die sprachliche Eleganz und Eloquenz der Übersetzung loben, darf aber eine Freundin zitieren, die     das französische Original "sprachlich ein Juwel" genannt hat. Es gibt in dem Roman sehr viele Personen und jede einzelne hat eine Geschichte, die erzählenswert ist, jede einzelne wird ernstgenommen und erhält einen einzigartigen Charakter, eine eigene Schattierung. Schon dadurch wird der Roman komplex und vielschichtig, dabei aber nie verwirrend oder unübersichtlich. Denn man merkt schnell, dass man sich auf die auktoriale Erzählerin verlassen kann: Fäden, die sie aufnimmt, gehen nicht verloren, werden nicht vergessen, sondern wieder aufgenommen und weitergesponnen. Beim Erzählen der einzelnen Geschichten gerät Quiviger nie auf Abwege, kein einziges Mal hat die Leserin das Gefühl, diese oder jene Anekdote führt jetzt aber nirgendwohin, oder fragt sich, wieso jetzt dieser Charakter so auserzählt wird. Alle sind unterschiedlich, spannend, und auf ihre Art unbedingt erzählenswert. Ebensowenig fällt Quiviger in die Falle der ständigen Cliffhanger: Mal endet ein Kapitel versöhnlich, mal abgeschlossen, mal mitten in einer Verflechtung, in einem Spannungsmoment. Wobei es sich gar nicht um viele verschiedene Erzählstränge handelt. Vielmehr ergibt sich eine Art Gleichzeitigkeit, wie auf einem Gemälde z.B. von Hieronymus Bosch, auf dem unzählige Menschen, Tiere, Ereignisse zu entdecken sind. Comics arbeiten auch so, es ist eines der Besonderheiten und Vorteile, die diese Kunst gegenüber den in diesem Aspekt eindimensionalen Romanen hat. Übrigens macht unter diesem Gesichtspunkt auch der Titel Sinn: Es ist nicht etwa die Geschichte von Prinz Tibald und seiner Frau Ema, die den Titelnamen geben, das Buch heißt Königreich Eckstein, und all die Menschen dieses Reiches und ihre Schicksale zusammen bilden den Roman. 

Schön und gut, mag man jetzt denken, es ist klar geworden, dass der Roman gekonnt komponiert und hervorragend ausgearbeitet ist. Das reicht aber doch nicht, wenn die Story selbst zu wünschen übriglässt, wenn die Handlung fehlt, wenn es nichts zu erzählen gibt. Worum also geht es eigentlich in dem Ganzen?

Es geht um nicht weniger als alles, was das Leben ausmacht. Zu ungenau? Na gut: Erzählt wird, wie Prinz Tibald auf hoher See seine Frau Ema findet, zurück in Eckstein gegen den Willen seines Bruders Jesko und der Stiefmutter Sidra König wird, welche Hindernisse und Schwierigkeiten seine Regentschaft begleiten und ihm und Ema den Weg schwer machen. Es geht um die Geburt der ersten Tochter des Königspaares und es geht immer wieder ahnungsvoll und bedrohlich um ein düsteres Geheimnis des Königreichs Eckstein. Ein Geheimnis voller Magie, unerklärlichen, übernatürlichen Erscheinungen, das eine Bedrohung für Tibald, Ema und ihre Tochter Miriam darstellt, und das unheilvoll mit Sidra zusammenhängt. Und es geht eben gleichzeitig auch um viel mehr, um die großen, zeitlosen Themen Liebe, Tod, Hass, Verrat, Treue, und die Frage nach dem guten Leben. Im Großen wie im Kleinen. 

Pascale Quiviger: Eckstein. Band 1 und 2.  Atlantis Verlag 2023, 20.- €

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Wie schön, wenn ein Folgeband mit denselben liebgewonnenen Personen erscheint, der dann doch eine völlig andere Stimmung, Erzählhaltung und Geschichte aufweist. In der zweiten Graphic Novel von Dåsnes geht es um Bao, und auch, wenn wir Baos Innenleben, ihre Gedanken und Wünsche kennen, hat Dåsnes diesmal nicht die Tagebuchform gewählt. Bao engagiert sich, sie ist Schülersprecherin und sie macht sich Sorgen um die Umwelt, konkret um den Wald hinter der Schule. Dass der einem Parkplatz geopfert werden soll, kann sie nicht verstehen. Und so mobilisiert sie ihre Freundinnen Tuva und Linnea, dagegen zu protestieren. Doch so leicht ist das nicht. Wie motiviert man die anderen Schüler*innen? Wie kann man gegen die Erwachsenen argumentieren? Und wie geht es weiter, wenn das alles nicht hilft? 

Dåsnes hat genau hingeschaut und gut zugehört, trifft den richtigen Ton und wagt sich offen und klar an die Konflikte und Spannungen nicht nur zwischen Bao und ihrer Mutter und den Lehrkräften, sondern auch ihren Mitschüler*innen und Freundinnen. Total überzeugend!

Nora Dåsnes: Hände weg von unserem Wald. Klett Kinderbuch Verlag 2023, 18.- €

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Wie schön, dass Mira wieder da ist, ein Jahr älter, ein Jahr weiser – und voller Energie, Tatendrang und: Wut! Dass Eltern über alles Mögliche bestimmen, mag ja zum Teil seine Berechtigung haben. Aber zu viel ist zu viel. Ob es der Lehrer ist, der plötzlich eine Woche mit täglichen Lernabfragen ankündigt, Miras Mutter, die einfach so Umzugspläne macht, oder die Eltern von Miras Freundin Liva, die sich ständig streiten und dabei keinerlei Rücksicht auf Liva nehmen: So kann es nicht weitergehen. Mira und Liva rufen ihren Kunstclub zusammen und beschließen zu handeln. Denn: Wenigstens den Kindern zuhören und miteinander reden, das sollten die Erwachsenen doch hinkriegen, oder?

Es ist immer toll, wenn vielversprechende Serien auch gut bleiben – und das ist bei Mira der Fall. Sie wächst mit (nun ist sie schon 12 Jahr alt) und die Themen ebenso, dabei bleibt der Humor, der lässige Zeichen-Stil und das Erzählen auf Augenhöhe – klasse!

Sabine Lemire/Rasmus Bregnhøi: Mira#kinder#gegen#erwachsene. Klett Kinderbuch 2022, 16.- €

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Ein Brief, den zu schreiben der Lehrer der siebten Klasse seinen Schüler*innen als Aufgabe stellt, wird für Wilbur zum Verhängnis. Offen und ehrlich – und in dem Glauben, der Brief werde von niemandem gelesen und in eine Zeitkapsel versiegelt – schreibt Wilbur über sich und seine Wünsche, unter anderem möchte er Freunde finden, mutiger sein und seinen Penis besser kontrollieren können. Als einziger rutscht ausgerechnet sein Brief dem Lehrer aus der Hand und wird von einem fiesen Miststück von Mitschüler auf den sozialen Medien veröffentlicht. 

Das ist jetzt zweieinhalb Jahre her und hat seitdem Wilburs Leben geprägt: Ständig wird er gehänselt, seine Rolle als kompletter Außenseiter scheint besiegelt. Er hat sich gefügt und versucht nur noch, nicht aufzufallen. Erst als sein Austauschschüler aus Paris, Charlie, sich als Austauschschülerin entpuppt und Wilbur sich verliebt, erwacht in ihm ein zarter Wille zu Veränderung. Vor allem sein alter (85 Jahre) Freund Sal und sein einziger neuer Freund Alex (und dessen Freund Fabio), bringen die Sache erst richtig ins Rollen, indem sie ein Runderneuerungssprogramm für Wilbur entwickeln und streng überwachen...

So sehr ich Nielsen schätze: Dies ist nicht ihr bestes Buch. Zu lang und repetitiv und damit schon sehr anstrengend für die Leser*in ist die Selbsthassphase Wilburs, zu schlicht und oberflächlich die Selbstoptimierungsidee. Zum Glück kann Nielsen tolle Charaktere schaffen und kennt im Grunde die Tricks für eine spannende und mitreißende Geschichte. Nach der knappen Hälfte nimmt dann auch die Sache Fahrt auf, und am Ende fühlt man sich insgesamt doch gut unterhalten und hat auch die Botschaft sicher verstanden.

Susin Nielsen: Die gigantischen Dinge des Lebens. Urachhaus Verlag 2022, 18.- €

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