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03.04.2020 - Beginn der Reihe "Buch der Woche/für das Wochenende"

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Nach unzähligen Büchern, bei denen Anke Kuhl illustriert hat und deren Illustrationen ich ausnahmslos in den höchsten Tönen gelobt habe, dürfte es keinem mehr verborgen geblieben sein: Ich bin absoluter Anke-Kuhl-Fan. Immer schon gewesen. Und nun kommt mein ultimatives Lieblingsbuch: Anke Kuhl zeichnet Szenen aus ihrer Kindheit. Herrlich, witzig, böse, und ganz sicher alles genau so passiert. Großartig! Am besten liest man das übrigens Generations-übergreifend.

Anke Kuhl: Manno! Alles genau so in echt passiert. Klett Kinderbuch 2020, 16.- €

06.04.2020 - Eine Freundschaftsgeschichte mal anders. 

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Freddie und Mattis sind schon immer Freunde und schon immer ziemlich gegensätzlich gewesen. Während Freddie eher ein Harmoniemensch ist, keinen Streit mag und auch nicht unbedingt auffallen möchte, ist Mattis ein echter Halunke, der nur dummes Zeug im Kopf hat und über Regeln gerne mit einem breiten und charmanten Grinsen hinweggeht. Die gesamte Grundschulzeit (in Berlin bis nach der sechsten Klasse) hat Freddie alles mitgemacht und ehrlich gesagt Mattis auch oft gerettet, ihn zurückgehalten, abgelenkt, gebändigt. Das ist auch jetzt noch dringend nötig, denn nun, kurz vor Ende des Schuljahres, kann sich Mattis keine Verwarnung mehr leisten. Doch leider werden seine verrückten Ideen immer gefährlicher und Freddie wird immer mulmiger zumute...Wird er mal wieder seinen Kopf für Mattis hinhalten müssen?

Ein sehr ungewöhnliches Buch – nicht nur, weil die Erzählerin immer wieder auftritt, kommentiert, sich einmischt, ohne sich je zu erklären (was sehr gekonnt und in genau dem richtigen Maße passiert, den jungen Leser*innen aber oft einen Bruch in der Geschichte und ein Umschalten auf eine Metaebene abverlangt). Auch die Geschichte ist eine Herausforderung, sie erwartet vom Leser, sich eine Meinung zu bilden, enttäuscht dann gerne die Erwartungen und Hoffnungen, geht nicht den gewohnten, bekannten (pädagogischen) Weg, sondern ist mehr wie das Leben selbst: manchmal unbefriedigend. Klasse!

Anke Stelling: Freddie und die Bändigung des Bösen. Cbj Verlag 2020, 13.- €

10.04.2020 - Sehr amüsant, jedoch nicht unbedingt zur Nachahmung empfohlen!

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Eigentlich hat der Vater in den Ferien einen Besuch am Baggersee versprochen, aber nun muss er erst noch etwas arbeiten – und Mika soll warten, leise sein, nicht stören. Was natürlich viel besser geht, wenn man ein Haustier hat, mit dem man sich beschäftigen kann. Das sieht der Vater ein und erlaubt Mika, sich im Zoogeschäft ein Haustier zu holen. Ziemlich leichtsinnig! Das erste Tier ist eine Wüstenrennmaus, die leider am nächsten Tag schon nicht mehr zu finden ist. Der Vater schickt Mika wieder in den Zooladen, dort soll er sich Hilfe holen. Und das tut Mika...

Sehr amüsant, die kreativen Ideen von Mika und dem Zoogeschäftbesitzer!

Katja Gehrmann/Constanze Spengler: Seepferdchen sind ausverkauft. Moritz Verlag 2020, 14.- €

12.04.2020 - Lustig, trocken, spannend und klasse illustriert.

Ein köstlich amüsanter Spaß im Doppelpack für kleine Leser*innen,

aber auch hervorragend zum Vorlesen geeignet!

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Trudel wird geradezu aus dem Hühnerhof herauskatapultiert und landet hinter dem Zaun, in der Wildnis. Auch du dickes Ei! Aber nun, wo sie schon hier ist, kann sie sich ja auch mal ein bisschen umsehen, vielleicht das Mehr, von dem die Möwe gesprochen hat, mal bewundern. Wie gefährlich die Welt für ein Haustier wie Trudel ist, hätte sie nicht erwartet…

Schöne Geschichte über Freunde, die sich manchmal hinter harten Schalen verbergen, die jedoch durch eine gute Portion Unschuld und entwaffnende Freundlichkeit geknackt werden können.

Eva Muszynski/Karsten Teich: Trudel Gedudel purzelt vom Zaun. Cbj 2019, 12.- €

Trudel sitzt mit ihren neuen Freunden, einer gefräßigen Möwe und einer griesgrämigen alten Schiffsratte, immer noch am Meer und genießt den Sonnenuntergang. Doch die Nacht möchte sie lieber im Hühnerstall verbringen, und so macht sie sich auf den Heimweg. Da der Weg jedoch durch den Wald führt, wo – wie man weiß – der Fuchs wohnt, begleitet sie Klautermann, die Schiffsratte. Und Gräten-Käthe fliegt als Ausguck oben drüber. Dass Klautermann vielleicht ein bisschen weniger mutig ist, als er sagt, und Gräten-Käthe etwas unzuverlässiger als versprochen, ahnt Trudel ebenso wenig wie die ungewöhnliche Tatsache, dass sich Ete und Petete, die beiden Puten, ebenfalls im Wald auf die Suche nach Trudel gemacht haben. Und dann ist da auch noch der Fuchs... aber, wie immer hat Tante Elli am Ende recht: Hast du Freunde in der Not, kriegt der Fuchs kein Abendbrot!

Eva Muszynski/Karsten Teich: Trudel Gedudel foppt den Fuchs. Cbj 2020, 12.- €

16.04.2020 - Toll, dass jetzt bereits der dritte Band von Bifi & Pops erschienen ist,

denn die sind genau richtig in Umfang und Anspruch, Spannung und Witz.

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Wer hätte gedacht, dass man Diebe an ihren Pupsen erkennen kann? Bifi kann das! Als ihm am Morgen das Frühstück vor der Nase weggestohlen wird, riecht er Dosenfisch-Katzen-Pups! Unerhört! Den Rest des Tages sucht und schnüffelt er (uääh), denn das Frühstück bleibt nicht der einzige Diebstahl...

Stefanie Taschinski: Bifi & Pops: Mission Katzenpups. Oetinger Verlag 2019, 8.- €

Wieder spielt Bifis toller Geruchssinn eine Rolle, und wieder wird ein Rätsel geklärt. Bifi und Pops sind eigentlich ein tolles Team. Bifi weiß genau, was „Sitz“ und „Platz“ bedeuten, also muss er es nicht mehr dauernd zeigen. Lieber tut er Pops den Gefallen und spielt Hol-den-Ball, was Pops ja offensichtlich so liebt. Warum Pops also meint, sie müssten gemeinsam eine Hundeschule besuchen, versteht Bifi nicht ganz. Und dass er sich dort ganz anders benimmt als zuhause, hat sowieso andere Gründe...

Stefanie Taschinski: Bifi & Pops: Mission Hundeschule. Oetinger Verlag 2019, 8.- €

Endlich kann Bifi beweisen, was für ein Held er ist, denn auf dem Ausflug mit Pops muss er ganz schön aufmerksam sein! Pops bemerkt weder die Wildschweine noch den Fuchs - wer weiß, was passiert wäre, wenn Bifi nicht aufpassen würde...Und als die Bienen ausschwärmen, ist es Bifi, der sie findet. Dass er am Ende endlich mal den unhöflichen Nachbarn anspringen darf, ist nur gerecht!

Stefanie Taschinski: Bifi & Pops: Mission Bienenstich. Oetinger Verlag 2020, 8.- €

19.04.2020 - Eins der schönsten Bücher vom Frühjahr...

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Auch wenn Bernt ein Klugscheisser ist, bleibt er doch Ulfs bester Freund (außerdem hat Ulf von ihm schon mehr gelernt als in der Schule), und zusammen suchen die beiden gerne das Abenteuer. Zum Beispiel beim Riesen Oskarsson. Der ist gefährlich und frisst vielleicht Kinder, aber wenn Ulfs Mama Klavier spielt, wird er ganz ruhig. Dann passieren zwei Katastrophen auf einmal: Ulfs Mama spielt nur noch schrecklich traurige Lieder, weil sie ihre geliebte Einsamkeit nicht mehr hat, was beim Riesen ziemlich schlechte Laune verursacht, und Ulf verrät ein Geheimnis über Bernt, woraufhin dieser ihm die Freundschaft aufkündigt. Was nun?

Eine Perle des Frühjahrs: Leicht, mutig und lustig erzählt Stark eine Geschichte voller Weisheit und Wahrheit. So kann gute Literatur für Kinder aussehen. Und als I-Tüpfelchen machen die schönen Bilder von Regina Kehn das Buch perfekt.

Ulf Stark: Als ich die Pflaumen des Riesen klaute. Urachhaus Verlag 2020, 16.- €

23.04.2020 Am Welttag des Buches -  Richtig gutes Lesefutter: Spannende, witzige, lässige und lustige Abenteuer-Freundschaftsgeschichten

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Gibt es Menschen, die einfach richtig böse sind? Robin und sein Freund Nils glauben daran, dass die Zwillinge Sven und Maik das Böse in sich tragen. Und so sind sie sicher, dass das richtig üble Video auf Janniks Handy von den beiden gemacht wurde, sie Janniks Handy geklaut und dann am See verloren haben. Jetzt hat Robin es gefunden – und was tun? Das Video löschen und Problem gelöst? Irgendwie nicht, denkt Robin, und macht sich auf, um mit Jannik zu sprechen und für Gerechtigkeit zu sorgen. Nur: Der will gar nicht und benimmt sich richtig blöd. Was nun? Gerechtigkeit auch für Blöde? Zusammen mit Kilian aus Berlin und Robins Cousine Zilli beschließen Robin und Nils, für Gerechtigkeit zu sorgen, trotz allem! Ganz tolle Geschichte in genau der richtigen Mischung aus spannend, witzig, lässig und engagiert!

Ulrich Fasshauer: Robin vom See  1 – Die Bande zur Rettung der Gerechtigkeit. Magellan Verlag 2019, 13.- €

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Auch der zweite Band spielt in diesem idyllischen Ambiente auf der Mecklenburgischen Seenplatte: Es sind Sommerferien und das Geschäft von Robins Vater – Kajakverleih am See – boomt, denn es herrscht eine Hitze, bei der man es fast nur im Wasser aushalten kann. Robin, Nils und Zilli testen gerade neue Wasser-Weitsprungarten, als es passiert: Robin trifft auf ein Krokodil! Sofortiges Badeverbot! Das ist der Super-GAU für die Geschäfte, die von den Touristen leben – oder? Erstmal nicht, im Gegenteil: Vor lauter Sommerloch stürzen sich die Reporter auf die Geschichte und Robin wird kurz berühmt. Doch dann findet man das Krokodil einfach nicht und irgendwann scheint niemand mehr Robin zu glauben. Gut, dass Kilian aus Berlin wieder gekommen und sofort bereit ist, mit Robin auf nächtliche Krokodilsuche zu gehen...

Auch im zweiten Band gelingt Fasshauer die perfekte Mischung: spannende Abenteuergeschichte, witzige Dialoge, bunte, toll gezeichnete Typen, lässiger Ton. Klasse! Hoffentlich kommen noch ein paar Bände!

Ulrich Fasshauer: Robin vom See 2 – Die Jagd nach der graugrünen Gefahr.  Magellan Verlag 2019, 13.- €

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Auch der dritte Band der Reihe „Robin vom See“ ist unbedingt lesenswert – und das ist schon bemerkenswert, denn wie oft fangen Reihen-Geschichten nach einer Weile an zu langweilen. Diese nicht! Zeitlich schließt die Handlung wieder direkt an die beiden vorherigen Bände an: Die Sommerferien sind vorbei, der Herbst kündigt sich schon langsam an. Und Robin glaubt, dass sein Vater einsam ist und vielleicht eine Frau braucht. Da kommt Lara in ihrem VW-Bus gerade richtig. Nur leider hat sie eine unerträgliche Tochter dabei: Aurelia, sieben Jahre alt, ungezogen, nörgelig, tyrannisch. Was jetzt? Robin ruft die Bande auf dem Plan und mit Jannik, Kilian, Zilli und Nils steht das Projekt „Bändigung des Biestes“ schnell. Eine Möglichkeit, Aurora loszuwerden, wäre, ihren Vater zu finden – aber irgendwie mauern Mutter und Tochter sofort bei dem Thema...

Wieder so nonchalant erzählt (wer kann es sich schon erlauben, in einem Jugendbuch so einen Satz zu schreiben: „...ein Karton voller zerrüttetem Verstand fachte das Feuer an...“?) und absolut ohne Längen, dafür mit viel zurückhaltendem Humor und einem tollen Einfühlungsvermögen für die Personen und, ja: Dieser Autor hat etwas zu erzählen. Und das macht er großartig.

Ulrich Fasshauer: Robin vom See 3 –Das Sturmtief über Schikagow.  Magellan Verlag 2020, 13.- €

26.04.2020 - Auch in diesen seltsamen Zeiten gibt es genug Wege,

einander Respekt und Freundlichkeit zu zeigen.

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Eine einfache Botschaft, die trotzdem und gerade heutzutage nicht oft genug wiederholt werden kann: Wir selbst gestalten unsere Welt, und wenn wir nett sind, offen und mitfühlend, machen wir diese Welt zu einer besseren. Jede/r kann das, alle können mitmachen, es gibt so viele unterschiedliche Arten, wie man anderen etwas Gutes tun kann, wie man einfach nett sein kann – da finden alle ihren Weg.

Tolle Idee - und mit 38 verschiedenen Illustrator*innen super umgesetzt!

Axel Scheffler: Einfach nett. Beltz Verlag 2020, 12.95 €

30.04.2020 - Bei Lockerung des Lockdowns Klimaziele berücksichtigen!

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Auffällig viele gut gemachte Sachbücher für Kinder und Jugendliche sind aus dem Niederländischen übersetzt. Man denke an Bibi Dumon Tak mit ihren wunderschönen Tierbüchern oder auch Jan Paul Schutten und Floor Rieder mit den Bänden Evolution und Der Mensch, um nur zwei Beispiele zu nennen. Marc Ter Horst und die Illustratorin Wendy Panders müssen den Vergleich nicht scheuen. Sie haben hier eines der besten Bücher zum Thema Klimawandel in diesem Frühjahr vorgelegt – und davon gab es in den letzten Monaten nicht wenige. Das Buch ist umfassend und dabei gut nachvollziehbar strukturiert: Es beginnt mit der Frühgeschichte des Klimas, über Eiszeiten und Forschung zum Klimawandel geht es bis zu den Ursachen und Folgen. Dabei wird nicht nur wirklich gut, verständlich und klar erklärt, man hat auch noch Spaß dabei, amüsiert sich und ist gut unterhalten. Der Ernst der Lage wird dennoch deutlich, ohne dass im Geringsten dramatisiert oder polemisiert wird. Die Illustrationen sind pfiffig und ergänzen die Texte hervorragend. Rundum gelungen! 

Marc Ter Horst: Palmen am Nordpol. Gabriel bei Thienemann 2020, 19.- €

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„Meckert! Seid ungemütlich! Lasst uns nicht in Ruhe!“ Denn es ist an uns, etwas für eure Zukunft zu tun, wir müssen eine Welt hinterlassen, in der man gut leben kann.

Dieser Aufruf schließt ein sehr informatives und gut aufgebautes Buch ab, in dem das komplexe Thema knapp, übersichtlich, leicht verständlich und großzügig illustriert erklärt wird. Im ersten Teil wird erklärt, was das Klima ist und welche Einflüsse dabei eine Rolle spielen. Im zweiten Teil geht es um den Klimawandel, vom Titel-gebenden Eisbären bis zu den Korallen, vom Regenwald bis zu den Unwettern. Im dritten Teil schließlich wird ausführlich erläutert, was Klimaschutz alles umfassen kann. Und in dem abschließenden Aufruf wird zugleich deutlich, dass zwar alle gemeinsam helfen können: „Trotzdem tragt ihr die Verantwortung für die Erde nicht auf euren Schultern. Wir Erwachsenen sind dran.“ Auch das muss mal gesagt werden!

Kristina Heldmann: Ohne Eis kein Eisbär. Jacoby&Stuart 2020, 15.- €

03.05.2020 - Es gibt auch private Krisen, und die können furchtbar zermürbend sein

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Mitten im Schuljahr kommt der Neue, Louis, und Helsin kann ihn von dem Moment an nicht leiden, in dem er sich über ihren Namen lustig macht. Und dann scheint sich ihr bester Freund Tom auch noch mit Louis anzufreunden! Und es gibt ein Louis-Geheimnis, das alle kennen außer Helsin! Die Mischung aus Wut, Trauer, Eifersucht und Beleidigt-Sein, die Helsin empfindet (und Höfler großartig einfängt!), lässt sie Sachen machen, die sie sofort bereut. Aber einmal gelogen, und schon kann man die Wahrheit gar nicht mehr sagen, und einmal Dieb, immer Dieb, oder? Helsin kämpft, leidet, quält sich, explodiert, vertut sich und wächst über sich hinaus. Eine liebenswerte, lebensnahe Heldin voller Ecken und Kanten, und eine tolle Geschichte!

Stefanie Höfler: Helsin Apelsin und der Spinner. Beltz Verlag 2020, 12.95 €

07.05.2020 - Vorbild sein für den Nachwuchs – wer versucht das nicht?

Und wer schafft es eigentlich?

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Erwachsene sind – das weiß jedes Kind – Vorbilder in ihrem Tun und Benehmen. Sie fluchen nicht, mogeln nicht, vergessen nie etwas und lassen ihre Sachen nicht herumliegen. Deswegen haben sie ja auch das Recht, den Kindern genau dieses korrekte Benehmen zu befehlen. Wenn die Kinder allerdings genauer hinschauen – und das tun sie in diesem Buch – entdecken sie Ungeheuerliches!

Herrlich, wie die Zeichnungen die Texte Lügen strafen, indem sie die vorbildlichen Erwachsenen gnadenlos entlarven. Das wird Kinder jeden Alters erfreuen.

Davide Cali/Benjamin Chaud: So was tun Erwachsene nie! Thienemann Verlag 2020, 12.- €

10.05.2020 - Ein auch - und vielleicht gerade? -  in Corona-Krisen-Zeiten leider aktuelles Thema: Angst, Ausgrenzung, die Suche nach Sündenböcken. 

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An seinem elften Geburtstag bekommt Jannik von seinem großen Bruder Bo ein aufregendes Geschenk: Ein Adler-Notizbuch. Nun seien er und seine Freund*innen Elias, Kai, Pinar und Loni keine Kinder mehr, nun könnten sie Adler werden und richtig spielen, meint Bo. Und er muss es wissen, denn er erfindet die Spiele: Rätsel, Codes und Aufgaben, die die fünf Freunde als Gruppe und in verschiedenen Rollen lösen müssen. Doch irgendetwas verändert sich im Laufe des Spiels – und das hat nicht nur, aber doch viel mit der Situation in ihrer Straße zu tun. Plötzlich gibt es Stress mit Arbeitsstellen und Wohnungen, die Erwachsenen verfeinden sich, suchen Sündenböcke. Und die Kinder machen es ihnen nach. Wie kann Jannik seine Freunde wieder zur Vernunft bringen, was haben sie plötzlich gegen Loni? Und welche Rolle spielt Bo in der Sache?

Spannend und dicht erzählt Marmon von Freundschaft und Angst, Feigheit und dem so wichtigen inneren moralischen Kompass.

Uticha Marmon: Als wir Adler wurden. Fischer Sauerländer 2020, 14.-€

14.05.2020 - Wie könnte die Welt in dreißig Jahren aussehen und was bedeutet das für uns hier und heute? 

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Billy Schmidt ist fast fünfzehn, als sie im Rahmen eines Geschichtsprojektes beginnt, ihre Großmutter Nancy über die Vergangenheit zu befragen. Im Sinne von lebendiger und persönlicher Geschichte beschreibt sie zuvor auch kurz ihren eigenen Alltag im Jahre 2050. Da die Großmutter fast einhundert Jahre alt ist, kann sie viel Spannendes berichten, nicht wenig davon erscheint Billy im Vergleich zu ihren jetzigen Lebensumständen wahnsinnig altmodisch und fremd. Doch dann erreichen sie die letzten 20, 30 Jahre, die Zeit vor Billys Geburt und auch die Zeit, in der ihr Onkel Quentin erst verschwand und dann unter unklaren Umständen starb. Die Großmutter erzählt vom SHOCK, der großen Klimakatastrophe und den Folgen für die Gesellschaft, von Populisten, die an die Regierungen kamen und für Chaos sorgten, von Widerstand und Aufbegehren, von Resignation und dem Akzeptieren des Unvermeidlichen. Und Billy beginnt ihre eigenen Nachforschungen, sucht nach Freunden von Quentin und stöbert in alten Dokumenten. Und langsam beginnt sie zu verstehen – und zu handeln...

 

Auch wenn der Plot auf die Berichte und gesammelten Dokumente der Großmutter beschränkt bleibt und nur an den Rändern etwas ausfranst, um gleichzeitig missionarisch-pädagogisch zu werden – lesenswert ist das Buch vor allem aufgrund seiner vielen unheimlich realitätsnah weitergedachten Zukunftsentwürfe. Z.B. wenn die Großmutter die Entstehung der jetzigen (2050) Wohnverhältnisse erläutert: „Doch seit Beginn der 2020er Jahre kam es immer häufiger zu Ausbrüchen von Virusepidemien. Die eine breitete sich über China aus, die andere über Spanien, die dritte über Brasilien. Jede dieser Pandemien forderte weltweit Zehntausende Tote. Außerdem unterbrachen sie massiv die weltweiten Lieferketten, was die Wirtschaftsleistungen sehr beeinträchtigte. Ende der 2020er war klar, dass etwas unternommen werden musste...“ (Seite 127)

 

Thomas Harding: Future History 2050. Jacoby & Stuart 2020, 18.- €

17.05.2020 - Wer liest, lernt Empathie - eine derjenigen Fähigkeiten, die sich gerade in Zeiten wie den jetzigen als essentiell herausstellen. Wenn darüberhinaus Empathie in der spannenden Geschichte selbst eine große Rolle spielt – was will man mehr?

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Eine Freundschaft verändert diejenigen, die befreundet sind, besonders, wenn es eine sehr enge und ungewöhnliche Freundschaft ist. Nicht nur durch die Art, wie andere die Freundschaft sehen und beurteilen, vielleicht auch verurteilen. Es ist auch die Nähe, die man zu dem Freund spürt, es ist die Empathie, es ist nicht zuletzt der Blick, den man annimmt: Man sieht die Welt durch die Augen des anderen. Und das verändert manchmal alles.

Die Geschichte einer solchen Lebens-verändernden Freundschaft erzählt Scherz spannend und liebevoll, unaufgeregt und mit der nötigen Ernsthaftigkeit. Es ist die Freundschaft zwischen Habbi, dem Erdhörnchen, und Yaruk, einem Wolf. Nach dem Winterschlaf treffen sich die beiden wie verabredet auf der Wiese jenseits des großen Flusses. Sie verbringen einen wunderbaren Tag zusammen, obwohl Habbi den Eindruck hat, dass Yaruk sich verändert hat, aber noch nicht davon erzählen möchte. Am Abend, als Habbi sich auf den Heimweg macht, müssen die beiden feststellen, dass der Fluss plötzlich viel größer und reißender ist. Habbi kann nicht zurück. Doch kann er es wagen, im Wolfsrudel unterzukommen?

Oliver Scherz: Ein Freund wie kein anderer: Im Tal der Wölfe. Thienemann Verlag 2020, 14.- €

Habbi ist so mutig und neugierig wie kein anderes Erdhörnchen. Während seine Geschwister Beeren sammeln und dabei nicht den Futterpfad verlassen, zischt Habbi durch den Wald und freut sich über Federn, Libellenflügel und die Sonnenstrahlen im Unterholz. So erreicht er eines Tages das Ende der Welt: den Bach, der ein reißender Fluss wird. Und dort wäre er beinahe ertrunken, wenn er nicht gegen etwas Großes Weiches geprallt wäre: ein Wolf. Vor dem warnt ihn seine Mutter doch immer – wieso liegt er so kraftlos herum? Als Habbi merkt, dass der Wolf verletzt ist, überlegt er nicht lange, sondern überwindet seine Angst und hilft ihm. Das ist der Beginn einer wunderbaren Freundschaft...

Oliver Scherz: Ein Freund wie kein anderer. Thienemann Verlag 2018, 14.- €

21.05.2020 - So viel Gelassenheit, Respekt und Liebe zu erfahren, wie diese Großmutter beweist, wünscht man jedem Kind!

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Meerjungfrauen sind so schön, schillernd und faszinierend – kein Wunder, dass Julian hin und weg ist, als er drei davon in der Metro trifft. Er ist so bezaubert, dass er sich zuhause auch als Meerjungfrau verkleidet. Als seine Großmutter ihn so sieht, ist sie nicht etwa verärgert oder peinlich berührt – im Gegenteil! Sie sieht, wie glücklich Julian ist, hängt ihm eine Perlenkette um den Hals und nimmt ihn mit zur Parade der Meerjungfrauen. Wunderbar! Eines der schönsten Bücher dieses Frühjahrs, in Bild und Inhalt.

Jessica Love: Julian ist eine Meerjungfrau. Knesebeck Verlag 2020, 13.- €

24.05.2020 - Nach fast acht Wochen quasi Hausarrest mit der gesamten Familie ist dem einen oder der anderen vielleicht diese Idee schon einmal gekommen...

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Wer wollte das nicht schon einmal in seinem Leben: Einen Bruder oder eine Schwester, die oder der einem so richtig auf den Wecker geht, eintauschen, notfalls auch gegen ein Erdmännchen! Ein Erdmännchen? Nun ja, das dann vielleicht doch nicht, denkt zumindest Jonny, als der im Internet eingetauschte Bruder auftaucht und sich verdächtig Nager-mäßig benimmt. Anstrengend. Beim nächsten Versuch allerdings läuft es auch nicht viel besser. Und irgendwann hat Jonny die Nase voll und möchte die Sache rückgängig machen. Doch plötzlich ist die Website nicht mehr aufrufbar! Was nun? Wie kann Jonny seinen Bruder jetzt je wiederfinden?

Jo Simmons: Hilfe, ich habe meinen Bruder im Internet getauscht! Schneiderbuch 2020, 14.- €

28.05.2020 - Wenig Text und ganz auf das Wesentlich reduzierte Illustrationen mit großer Aussage, beeindruckend. Am besten gemeinsam lesen und deuten.

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Wer nicht weiß, wann er genug hat, ist arm dran. Fausto ist so einer, der alles und jeden besitzen will. Und wenn sich jemand oder etwas nicht sofort seinem Willen fügt, wird er sehr wütend. Das Meer lässt sich nicht besitzen, es ist groß und frei und klüger als Fausto. Und damit kann Fausto gar nicht umgehen...

Wenige treffende Worte, skizzenhafte Zeichnungen im leeren Raum, großzügig gestaltet – ein sehr gelungenes und ungewöhnliches Buch voller Wahrheit.

Oliver Jeffers: Die Fabel von Fausto. NordSüd Verlag 2020, 18.- €

31.05.2020 - Der Wahnwitz von Verschwörungsgeschichten – auch wenn es hier noch nicht um Corona geht – ist beängstigend.

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Vor zehn Jahren, da war er gerade 5 Jahre alt, war Juri mit seiner Mutter zuletzt bei seinem Vater. Der hat jedoch den beiden die Tür nicht aufgemacht. Jetzt ist Juri fünfzehn und die Aussicht auf Sommerferien bei seiner Mutter und dem saufenden Typen, den diese gerade als Partner hat, begeistert ihn so wenig, dass er beschließt, es noch einmal bei seinem Vater zu versuchen. Er fährt ohne Ankündigung in das Dorf im Schwarzwald – und die Tür seines Vaters steht offen. Mit den nicht gerade schmeichelhaften Kommentaren seiner Mutter im Ohr ist Juri skeptisch, doch der Vater scheint zwar ein Spinner zu sein, verbringt aber Zeit gemeinsam mit dem Sohn beim Angeln, Modell-Bauen und Arbeiten im Haus. Und da ist noch das Projekt des Vaters. Über das erzählt er nicht viel, es hat zu tun mit dem Wald und dem bevorstehenden Krieg, seinem Freund Achim und dessen Familie, die allesamt Zivilisations-fern im Wald wohnen. Juri findet einiges etwas schräg, doch dass die Geschichte gefährlich werden könnte, darauf kommt er erst spät mit Hilfe einiger Jugendlicher aus dem Dorf, die Juris Vater und dessen Freunde schon länger beobachten.

Wer gänzlich ohne jemals irgendetwas von den wahnwitzigen Verschwörungsgeschichten à la „Die Mondlandung hat es nie gegeben, aber die amerikanische Regierung steht in Kontakt mit Außerirdischen“ oder „Den 11. September hat es nicht gegeben, das waren CIA Raketen, gezielte Sprengungen“ oder „Beim Holocaust wurden nicht sechs Millionen Juden ermordet, sondern genau 375 000“ gehört hat, der oder die wird vielleicht am Ende der Lektüre immer noch nicht verstehen, was bei diesen Menschen falsch läuft – aber vielleicht Interesse entwickeln, sich darüber etwas mehr zu informieren. Und erkennen, dass solche „Theorien“ brandgefährlich sind.

Martin Schäuble: Sein Reich. Fischer Verlag 2020, 14.- €

04.06.2020 - Gerade jetzt, wo sie langsam wieder kommen dürfen, macht dieses Buch großen Spaß!

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Wen erwartet die Frau in dem hübschen Rock so ängstlich? Wer kommt und klingt wie eine Rhinozerosherde? Hat hoffentlich gut geschlafen und gefrühstückt? Stellt hoffentlich nicht zu viele Fragen und bestraft hoffentlich nicht, wenn sie die Antworten nicht weiß? 

Albertine/Sylvie Neeman: Sie kommen. Aladin Verlag 2020, 15.- €

07.06.2020 - Das wäre auch mal eine spannende Erfahrung gewesen für diese lange Zeit des Hausarrestes: Ausprobieren, wie man sich im Körper eines anderen Geschlechts so fühlt...

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„Emmaboy Tomgirl“ von Blake Nelson war vermutlich das erste Jugendbuch, das die Idee hatte, Pubertierenden einen Geschlechtertausch aufzubürden, auf dass sie lernen, wie es sich in der Haut des jeweils anderen Geschlechts anfühlt. Das bot Anlass für viele herrlich komische Situationen, blieb dabei aber nicht unpädagogisch, zumal immer abwechselnd beide Sichtweisen zur Sprache kamen. In diese Richtung ging daher meine Befürchtung, als ich „Anna und Anto – plötzlich anders“ anfing zu lesen. Hat sich nicht bewahrheitet, so viel vorweg. 

Anna und Anton sind Zwillinge und 14 Jahre alt. Die Geschichte wird aus Annas Sicht erzählt, und das mit viel Humor. Als sie sich plötzlich ohne Vorwarnung in dem Körper ihres Bruders wiederfindet, sitzt sie neben dessen bestem Freund Maxim - in den sie verliebt ist. Dieser Twist, sowie die Reaktionen der Eltern, Antos, der besten Freundin Annas und eben auch Maxims Umgang mit dem so veränderten Anto machen die Geschichte abwechslungsreich und komplex. Und dabei bleibt sie immer sehr unterhaltsam. Macht Spaß! 

Gerlis Zillgens: Anna und Anto. Plötzlich anders. Planet bei Thienemann 2020, 12.- €

11.06.2020 - Der Roadtrip geht nach Brüssel! 

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Ohne Umschweife steigt man direkt in die Geschichte ein: Ates Whatsapp-Freund Baptiste schreibt ihm, dass er pleite ist und sein Handy verkaufen muss, woraufhin Ate spontan beschließt, nach Brüssel zu fahren und ihm sein altes Handy zu bringen. Ate wohnt in Holland, nach Brüssel sind es gut drei Stunden Fahrt, doch der Zeitpunkt ist günstig, da seine Mutter Freitag und Samstag immer bei ihrem Freund verbringt. Wer Ate jedoch am Bahnhof in Brüssel abholt, ist nicht Baptiste: Ein großes schwarzes Mädchen nimmt ihn mit in ein leerstehendes Haus und erzählt ihm, in welcher Gefahr sie – und Baptiste auch – ist. Auch wenn Ate ihr kein Wort glaubt, beginnt er sich doch zu fragen, was er eigentlich wirklich von Baptiste weiß, was er über ihn wissen will. Und was nicht. Und vor allem: Warum nicht.

Eine spannende und gleichzeitig gut lesbare Geschichte auf Augenhöhe des dreizehnjährigen Protagonisten. Besonders gelungen kommt rüber, wie komplex die Lage vieler Geflüchteter und illegal Lebender (hier: Kongolesen in Brüssel) ist, wie verflochten die Beziehungen und Abhängigkeiten sein können. 

Tjibbe Veldkamp: Roadtrip mit Lasergirl und Beyoncé. Carlsen Verlag 2020, 12.- €

14.06.2020 - Ein Sommer auf Penny-Hinterhöfen und unterwegs, von Fulda bis zur Nordsee, auf der Suche nach Jo und der eigenen Identität.

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“Seinen Namen sucht man sich nicht aus, der wird einem gegeben, erst bei der Geburt und dann hier auf dem Hinterhof.“ Es ist Entenarsch, die das sagt, und der Hinterhof ist der vom Penny, auf dem abhängt, wer dazugehören will. Das will Entenarsch unbedingt, auch und besonders wegen Can. Der beachtet sie jedoch genauso wenig wie die anderen, Marie, Vika, Otto, unser Pavel und Leroy. Gehört sie überhaupt wirklich dazu? Und ist sie eigentlich ein Entenarsch? Und wenn: Ist sie zum Entenarsch geworden, weil sie so genannt wird, oder wird sie so genannt, weil sie einer ist? Aber dann entwickelt sich dieser Sommer zu ihrer Chance, den Namen abzulegen. Denn Jo muss gesucht und gefunden werden, vor allem für Marie. Jo, der ihr den Namen gegeben hat, und der vor sechs Monaten verschwunden ist. Es gibt Postkarten, Spuren, Zeichen, die nach Süden führen. Doch man braucht ein Auto, um den Spuren folgen zu können. Und die einzige, die ein Auto und einen Führerschein hat, ist Entenarsch. 

Großartig erzählte Geschichte über so vieles, was man lernen muss auf dem Weg ins Erwachsenenleben:  Verantwortung übernehmen für seine Handlungen und Worte, selbstbestimmt und notfalls unter Inkaufnahme von Schmerzen Dinge in Ordnung bringen, und nicht zuletzt: sich seinen Namen aussuchen.

Sarah Jäger: Nach vorn Nach Süden. Rowohlt/Rotfuchs Verlag 2020, 18.- €

21.06.2020 - Erfreulich locker und selbstverständlich erzählt die Autorin schon für Dritt- und Viertklässler die Geschichte einer Selbstfindung.

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Dass irgendwas nicht stimmt, dass er sich nicht „richtig“ fühlt, weiß Leo schon länger. Doch erst, als ihm endlich sein neuer Name einfällt, wird ihm wirklich klar, was Sache ist: Er ist gar kein Junge! Tief in sich drinnen spürt er, dass er ein Mädchen ist und Jennifer heißt. Als Jennifer das jedoch ihren Eltern und Großeltern mitteilt, stößt sie auf Unverständnis, Zweifel, Unsicherheit und bei ihrem Vater auch auf sehr viel Sturheit. Zum Glück gibt es Freunde, für die das alles kein großes Ding ist, und auch die Lehrerin ist offen und hilfsbereit.

 

Franz Orghandl: Der Katze ist es ganz egal. Klett Kinderbuch Verlag 2020, 13.- €

28.06.2020 - Woher soll man wissen, was wahr ist?

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Woher soll man wissen, was wahr ist? Ist es bloß eine Frage, wem ich mehr vertraue? Oder wer mehr das sagt, was ich hören will?

Was für aktuelle Fragen, die sich die Protagonistin da stellt! Und Leah ist wirklich verzweifelt, denn ihre Welt steht Kopf: Ihr Zwillingsbruder Noah liegt im Koma, nachdem er zusammengeschlagen wurde. Von Geflüchteten – er, der doch so vielen geholfen hat und immer auf der „richtigen Seite“ stand. Wie kann das sein? Oder ist das alles gar nicht wahr? Hat Noah sich verändert, seine Ansichten um 180 Grad gewendet, wurde er in der Zeit vor der Gewalttat wirklich zu einem Nazi? Was Leah herausfindet und erfährt, verwirrt sie mehr und mehr. Wie soll sie je herausfinden, was wahr ist, ohne mit ihrem Bruder sprechen zu können?

Gewagt lässt der Autor Leah in sehr verführerische und eloquente rechtsgerichtete Kreise geraten und zeigt die manipulative und höchst gefährliche Überzeugungskraft solcher Menschen. Das macht die Lektüre trotz manch anderer eher weniger elaborierter Handlungsstränge sehr spannend.

Andreas Götz: Wir sind die Wahrheit. Dressler Verlag 2020, 17.- €

05.07.2020 - Die Idee der verkehrten Welt ist nicht neu, aber immer wieder lustig: Tures Abenteuer als ehrlicher Junge in einer Ganovenfamilie

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Papa Ede, Mama Fia, Ture und seine kleine Schwester Ella könnten eine ganz normale Familie sein – aber normal ist bei ihnen fast nichts. Denn klauen, stehlen, rauben und lügen ist bei ihnen an der Tagesordnung. Der einzige, der nicht mitmachen will, ist Ture. Er kann ganz einfach nicht lügen, davon bekommt er sofort schreckliche Bauschmerzen. Und so ist der Nachbar Paul Eisig – seines Zeichens Polizist – immer auf dem neuesten Stand, was die Pläne der Familie von Stibitz angeht. Dafür - und weil Ture so nett und ehrlich ist - will Paul Eisig ihm auch etwas ganz Besonderes zum Geburtstag schenken. Dass das ausgerechnet der Riesenlolli ist, den auch Familie von Stibitz Ture schenken wollte, kann er ja nicht wissen, oder?

Anders Sparring/Per Gustavsson: Familie von Stibitz. Der Riesenlolli-Raub. Hanser Verlag 2020, 10.- €

 

Wieder ist Paul Eisig dank Ture auf dem Laufenden und weiß: Die Eltern von Stibitz haben offensichtlich vor, den großen Gold-Diamanten zu klauen. Also macht er sich auf den Weg zur Diamantenausstellung – aber nicht nur er. Ture und Ella sind inzwischen zur Großmutter ins Gefängnis gegangen, weil sie so ganz ohne Erwachsene doch nicht zu Hause bleiben wollten. Und als die von der Diamantensache hört, ist sie gemeinsam mit ihrer Freundin Schummel-Lisa gleich Feuer und Flamme. Wer wohl zuerst da ist und den Diamanten klaut (oder beschützt)?

Anders Sparring/Per Gustavsson: Familie von Stibitz. Die Ganoven-Omi. Hanser Verlag 2020, 10.- €

12.07.2020 - Tolle Einführung in das Krimi-Genre für Zweit- und Drittklässler:

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Zur Abwechslung mal ein Krimi in einem ganz anderen Setting: in einem afrikanischen Safari-Park. Dort lebt Emma, deren Mutter ein Hotel mitten im Safari- Park führt, und Thabos Onkel kümmert sich um die Tiere im Park und macht Park-Touren für Touristen, bei denen Emma und Thabo oft helfen. Als die beiden diesmal in der Gruppe auf einen Herrn treffen, der sein Handy vermisst, stellt Thabo schnell die Verbindung her zu der Diebesbande, von der er zuvor gehört hat. Ob er auf der richtigen Spur ist?

Kirsten Boie: Thabo und Emma: Diebe im Safari-Park. Oetinger Verlag 2019, 8.- €

Im Hotel Lion Lodge von Emmas Mutter gab es offensichtlich einen Diebstahl! Mr Brown behauptet, dass Paki, der Schuhputz-Boy, ihm die Brieftasche geklaut hat. Denn wie sonst könnte er sie in der Hand halten? Und dazu noch ist das gesamte Geld weg! Thabo und Emma sind sich sicher, dass Paki die Wahrheit sagt: Er war das nicht! Aber wer dann? Vielleicht Sipho Joyful, der im Park den Rasen mäht – und der gerne schon morgens zu tief ins Glas schaut?

Kirsten Boie: Thabo und Emma: Ein böser Verdacht. Oetinger Verlag 2020, 8.- €

19.07.2020 - Vieles scheint unmöglich zu sein- bis jemand kommt und es macht. Diese Überzeugung der fast 12-jährigen Ruby wird auf eine harte Probe gestellt.

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Wieder muss Ruby, die sich Red nennt, in eine neue Pflegefamilie wechseln. Sie kennt das, sie ist jetzt fast 12 Jahre alt und erlebt diese Wechsel seit Jahren, und so weiß sie, dass sie sich wappnen muss für eine neue Enttäuschung, dass sie keine Hoffnung aufkommen lassen darf. Es sind nur noch etwas mehr als 365 Tage, ein gutes Jahr, bis sie zurück zu ihrer Mutter darf. Dann kommt diese aus dem Gefängnis und wenn alles gutgeht, sie nicht wieder zu Tabletten greift und sich verantwortungsvoll benimmt, darf Red bei ihr leben und hat endlich wieder eine echte Familie. Auch wenn diese neuen Pflegeeltern wirklich nett sind, anders als die anderen, ehrlich, aufrichtig und liebevoll. Und es gibt viele Tiere: Hunde, Ziegen und eine Riesenschildkröte, die Red sofort ans Herz wächst. Dann ist ihre Mutter plötzlich wirklich raus aus dem Gefängnis und gleichzeitig passiert in ihrer neuen Pflegefamilie etwas, das Red zutiefst verstört und verängstigt. Jetzt braucht sie ihre Mutter dringend – oder?

Eine ernste und wichtige Geschichte, ausschweifend erzählt mit einer Prise Magie und vielen großen Gefühlen. 

Lindsey Lackey: Das Mädchen, das den Sturm ruft. Dressler 2020, 18.- €

26.07.2020 - Ein wichtiges Buch nicht nur für Leser*innen ab 11 Jahren!

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Frank ist zehn, ein ziemlich guter Fußballspieler, hat zwei richtig gute Freunde, interessiert sich für die Geheimnisse des Weltalls und liebt Geheimcodes. Vor allem aber ist er Bruder. Bruder von Max, fünf Jahre alt, ein Kind mit vielen speziellen Bedürfnissen. Max ist Autist, er spricht nicht, aber schreit viel. Immer dann, wenn ihm alles zu viel wird, und das ist oft: Wenn ihn jemand berührt, wenn etwas nicht so ist wie gewohnt, oder einfach nur, weil es laut ist. Eigentlich ist Frank ein klasse großer Bruder und echter Max-Experte, aber als dieser in eine neue Schule kommt und Mum neuerdings ständig müde ist, wächst in ihm Wut und Verzweiflung. Und dann passiert plötzlich etwas, das Franks Universum auseinanderbrechen lässt…. 

Katya Balen erzählt aus der Perspektive Franks: Wie es ist, wenn die eigenen Wünsche und Bedürfnisse stets an zweiter Stelle stehen müssen, oder wie es sich anfühlt, wenn fremde Leute den schreienden Bruder anstarren oder Mitschüler sich über ihn lustig machen. Wenn er sich für seinen Bruder schämt und daran fast zerbricht. Beeindruckend, wie Balen immer die richtigen, die einfachen Worte und Bilder findet, um Franks Dilemma mitfühlen zu lassen. Dass Frank, der Code-Knacker, trotzdem nicht aufgibt und nach Lösungen sucht, können Leser spielerisch nachvollziehen: Alle Kapitelüberschriften sind nämlich in Zahlencodes geschrieben! 

Kein lustiges Buch, aber ein großartiges, wichtiges Buch nicht nur für Kinder ab etwa 11 Jahren, sondern (wie so viele großartige Kinder- und Jugendbücher) unbedingt auch für Erwachsene! Ein Buch, das tief berührt, aber auch tröstet, das erklärt und verständlich macht ganz ohne pädagogischen Zeigefinger. (Ute Bakus)

Katya Balen: Mein Bruder und ich und das ganze Universum. Carlsen Verlag 2019, 13.- €

02.08.2020 - Gerade wieder stand es in den Zeitungen: Einige Landwirte bestäuben ihre Pflanzen bereits künstlich, z.B. mit Drohnen. Denn: Auch die Wildbienen werden immer weniger. Gut, dass es Bücher wie dieses gibt, die mit Spannung und tollen Held*innen wichtige Themen aufgreifen! 

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Endlich ein rundum gelungenes Buch mit dem wichtigen Thema Insektensterben, das NICHT mit einem Zuviel an Faktenwissen den Roman zum Sachbuch macht, NICHT vor lauter missionarischem Eifer das Erzählen vergisst und auch NICHT vor Schuldzuweisungen und Panikmache die Story links liegen lässt und schließlich auch NICHT mit erhobenem pädagogischen Zeigefinger zu eigenem Handeln aufruft (obwohl man dazu am Ende tatsächlich Lust hat – aber das ist ja etwas ganz anderes!). Sondern: eine spannende Geschichte mit überzeugenden Held*innen und ebenso lebendigen Nebenfiguren, einer flotten Handlung, die von überraschenden Wendungen und originellen Ideen vorangetrieben wird und bis zum dramatischen Finale fesselt.

Erzählt wird abwechselnd von Hugo, 13, und Merle, 12 Jahre alt, die sich eigentlich nicht kennenlernen können, leben sie doch in völlig verschiedenen Welten. Hugo trauert um seinen vor Kurzem verstorbenen Opa und nun auch um den wunderschönen Garten, den der Opa hinterlassen hat, den die Mutter aber gerade verkaufen musste. In diesem Garten hält Hugo ein Bienenvolk, das er mit dem Verkauf des Gartens wird aufgeben müssen. Merle wiederum ist die Tochter des Bauunternehmers, der den Garten gekauft hat. Sie hat eine schwere Pollen- und Bienenallergie. Und doch ist genau sie es, die von einer von Hugos Bienen „angesprochen“ und zu Hugo geführt wird...

Esther Kuhn: SOS Mission Bienenstaub. Magellan Verlag 2020, 15.- €

09.08.2020 - Komik und Tragik, Witz und Ernsthaftigkeit, Leben und Tod

haben hier ihren Platz:

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Seit fast zwei Jahren geht das Leben an Paula vorbei, seit dem Tod ihres kleinen Bruders Tim steckt sie tief in einer Schwermut, die ihr die Lebensfreude nimmt, ihr Studium ruht. Jetzt endlich hat sie es geschafft, sich aufzuraffen und endlich wenigstens einmal Tims Grab zu besuchen. Um keinem Menschen zu begegnen, geht sie mitten in der Nacht – und trifft prompt auf einen Grabschänder. Oder was macht der mindestens 80 Jahre alte Mann mit seinem Spaten sonst am Grab einer gewissen Helga? Tatsächlich versucht der Mann – Helmut -, Helgas Urne zu stehlen, um ein letztes Versprechen zu halten und sie an den ihr zugedachten Ort zu bringen. Das erfährt Paula, nachdem sie ihm geholfen hat und die beiden dann vor den Friedhofsgärtnern fliehen mussten. Und dies ist erst der Anfang ihres gemeinsamen Abenteuers. Paula, die keinen Plan und nichts zu verlieren hat, beschließt spontan, Helmut in seinem alten Wohnmobil in die Alpen zu begleiten – eine irre Fahrt von zwei auf den ersten Blick völlig unterschiedlichen Menschen, die jedoch einiges gemeinsam haben. Helmut hält sein Versprechen und Paula findet auf der Reise mit Helmuts Hilfe ihren Weg zurück ins Leben – wobei da auch ein Hund und ein Huhn einen nicht unwesentlichen Beitrag leisten.

Es gibt einige Geschichten über Roadtrips mit generationsübergreifenden Held*innen-Teams, die sich erst spinnefeind sind, dann aber das Abenteuer ihres Lebens meistern, nicht selten spielt der Tod dabei eine tragende Rolle. Dieses Buch  sticht heraus: Es ist oft richtig witzig und kommt dabei weitgehend ohne den typischen (sehr amerikanischen) selbstironischen Ton mit seinen unrealistisch-genialen Gedanken und Dialogen der Protagonist*innen aus. Das Thema ist traurig, ja tragisch, und der Text ist eben nicht nur komisch, sondern auch ernsthaft, er traut sich auch an die großen Gefühle – und diese Mischung macht es.

Jasmin Schreiber: Marianengraben. Eichborn Verlag 2020, 20.- €

16.08.2020 - Dass der Junge, den die Protagonistin liebt, sich umbringen wird, weiß man von Anfang an. Aber wie geht Therese damit um?

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Ui, denkt man, Spoiler! Wie kann man auf dem Covertext schon verraten, dass der Junge, den die Protagonistin liebt, sich umbringt? Und tatsächlich hat man bereits fast die Hälfte des Buches gelesen, bis es passiert. Aber dann merkt man: Es geht gar nicht um Wally. Dieser Junge, der sich umbringt, bleibt seltsam blass und neblig. In Wirklichkeit geht es um Therese. Und auch von ihr – das erkennt man langsam – hat man auf den ersten 100 Seiten wenig erfahren. Ja, sie hat viele Namen, wird Tiger, Resey, Champ genannt, und ebenso viele Facetten. Aber wer ist sie wirklich? Erst mit ihrer Reaktion auf Wallys Selbstmord, erst, als wir miterleben, wie sie damit versucht umzugehen und was mit ihr passiert, erst da lernen wir sie kennen: Das Mädchen, das von Mutter und Vater verlassen wurde und bei der Tante aufwächst, das jetzt auch von dem Jungen, den es liebt, verlassen wurde, aber mit all dem super klar kommt, das Mädchen, das golden ist und alles hinkriegt. Mit keinem reden muss, keine Hilfe braucht, niemandem leidtun muss. Ist sie das wirklich? Psychologisch dicht und überzeugend!

Kate Gordon: Girl running, boy falling. Carlsen 2020, 16.- €

23.08.2020 - Sachbuch-Comics gibt es inzwischen viele – Reeves ist da fast schon einer der Pioniere. Sein jüngster Comic ist in der Reihe der spannendste:

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Nachdem Hubert Reeves uns schon den Wald und die Artenvielfalt erklärt hat, folgt jetzt als letzter Band in dieser Reihe der Ozean. Dieser Band ist von den dreien der beste, voller interessanter Informationen, klar und einfach erklärt, und wie immer in die Form einer Reise-Geschichte gepackt. Hier reisen Helene und Mohammed mit Reeves und einer Lehrerin ans Meer, erfahren einiges über Ebbe und Flut und die Schwankungen des Meeresspiegels über Millionen von Jahren hinweg. Dann geht es aufs Meer hinaus und sogar in einem Tauchboot hinab in die Tiefe. Die Kinder fragen viel und Reeves ist ein geduldiger und guter Erläuterer, der auch komplexe Zusammenhänge durchschaubar machen kann. Eine spannende Lektüre über ein faszinierendes Thema, durch die Comic-Form ansprechend und leicht lesbar.

Casanave/Reeves/Vandermeulen: Hubert Reeves erklärt uns den Ozean. Jacoby & Stuart 2020, 18.- €

30.08.2020 - Manchmal muss man einfach den Mut haben, Dinge selbst in die Hand zu nehmen:

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Wer je erlebt hat, der oder die einzige zu sein, die nicht auf ein Fest, eine Geburtstagsparty oder einen Ausflug mit eingeladen wurde, wer beobachtet hat, wie alle anderen planen, sich freuen und verabreden, dem spricht dieses Buch aus der Seele. 

Der Frosch ist verwirrt, traurig, einsam. Wieso hat der Igel alle anderen Tiere zu seiner Kostümparty eingeladen und nur ihn nicht? Lange wartet er noch auf eine Einladung, doch die kommt nicht. Da wird er wütend – und hat eine Idee: Er geht einfach trotzdem hin und verkleidet sich so gut, dass es keiner merkt!

Warum der Frosch keine Einladung erhalten hat, ob der Igel am Ende lieber Tiere mit Pelz mag, rotgrünblind ist oder vielleicht sein Stift angebrochen ist – wir werden es nicht erfahren. Aber beglückend ist dieses wunderschön illustrierte Buch nicht zuletzt auch genau deshalb.

Nele Brönner: Frosch will auch. Tulipan Verlag 2020, 15.- €

06.09.2020 - Tamara Bach schreibt so echt, als wäre sie gerade noch selber in der zehnten Klasse und auf Kassenfahrt gewesen - bis zum unerwarteten Ende...

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Das Schulhofgespräch, mit dem das Buch beginnt (und endet) ist schon richtig gut getroffen: der Ton der Schüler*innen, die Neugier in Verbindung mit Coolness, das Halbwissen, die Gerüchte, die Sensationslust, das Abschweifen – toll. Da wird man gleich neugierig, was denn nun wirklich auf der Klassenfahrt der 10b passiert ist, ob es wirklich einen Elternabend gibt und Strafen, Schulverweise oder sogar schlimmeres  – aber vor allem auch, ob es Tamara Bach gelingt, so auf Augenhöhe weiter zu erzählen. Das Format gibt es her, denn der Rest der Geschichte wird in Protokollen berichtet, die die Schüler*innen selbst anfertigen. Ziemlich schnell wird den ersten Protokollant*innen klar, dass die Texte nie ihrem Klassenlehrer ausgehändigt werden dürfen. Und im Laufe der Geschichte versteht man auch, warum: Dieser Herr Doktor Utz ist nicht nur streng, sondern auch ungerecht, ohne Verständnis oder gar Mitgefühl für seine Schüler*innen, völlig „alte Schule“, seine Pädagogik besteht aus Strafen und Sanktionen. Die Klasse lässt das alles erstaunlich gelassen über sich ergehen (zum Glück gibt es die nette Begleit-Lehrerin Frau Kaiser), kein erwähnenswertes Aufbegehren, im Gegenteil, die 28 Schüler*innen zeigen Solidarität und Gemeinsinn, je blöder die Strafen, desto größer das Gemeinschaftsgefühl. Die Referate werden klaglos bei 40 Grad und ohne Mittagspause gehalten, Lob gibt es dafür nie, ebenso lässt man die Tiraden des Lehrers über dieses und jenes über sich ergehen. Und dann ist da noch der Busfahrer, Herr Keller, Bestimmer nicht nur über die Musikanlage in seinem Bus-Universum. Über den machen sich die Schüler*innen Gedanken: Was treibt er den ganzen Tag, wenn er sie nicht gerade herumfährt? Wenn er irgendwo wieder warten muss? Wie sich herausstellt, hat dieser Busfahrer vielleicht ein dickes Fell nach all den Jahren und Klassenfahrten. Aber alles hat seine Grenzen...

Es gelingt Tamara Bach, die Spannung, die nach den Andeutungen im „Prolog“ aufgebaut wird, zu halten, eine Erwartung liegt in der Luft und man ahnt nichts Gutes. Sie schafft es auch, mit der Auflösung schließlich zu überraschen: Es passiert etwas völlig anderes, als man (ich jedenfalls) erwartete. Genau diese Auflösung ist dann aber auch der Schwachpunkt. Was die allzu gelassen ertragenden, manchmal altklug-weisen und auf jeden Fall unrealistisch solidarischen 28 Schüler*innen in den letzten 24 Stunden der Klassenfahrt gemeinsam mit dem Busfahrer, der nebenbei ein klassisches Klischee erfüllt, erleben, ist so utopisch, dass es kitschig wird.

Tamara Bach: Sankt Irgendwas. Carlsen Verlag 2020, 13.- €

13.09.2020 - Ein Highlight unter den Erstlesegeschichten, endlich auch für kleine Leser*innen ansprechend gestaltet!

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Zum Vorlesen gibt es die Ella-Geschichten auf Deutsch schon bald 15 Jahre – ein Geheimtipp sind sie also nicht mehr, eher schon Kultbücher, die auf dem Weg zum Klassiker sind. Zu Recht. Daher ist die Idee des Hanser Verlages nur zu begrüßen, aus einem kleinen Vorlesebuch drei schön gemachte, mit vielen wunderbaren und jetzt bunten Illustrationen von Sabine Wilharm ausgestattete Erstlese-Bücher zu machen. Endlich sind die Geschichten ansprechend und adäquat für genau die kleinen Leser*innen, die im Alter der Hauptpersonen sind. Sie bleiben dabei natürlich weiterhin auf vielen Ebenen hochkomisch und sprechen so auch die großen Geschwister und die vorlesenden Erwachsenen an - egal, ob man sich an den verrückten Abenteuern erfreut, über den Slapstick lacht oder den subtil-trockenen Humor schätzt. Und Ellas umwerfende, verblüffende und unverwechselbare Logik überzeugt auch immer wieder. So zum Beispiel im ersten Band, in dem Ella und ihrer Freunde fürchten, der Lehrer wird erpresst, was ja bekanntlich immer bedeutet, dass man gezwungen wird, einen Koffer voll Geld zu übergeben. „Warum sollte der Lehrer Geld in den Park bringen?“, wunderte sich Pekka. „Weil jemand sein Kind entführt hat“, sagte Timo. „Unser Lehrer hat überhaupt kein Kind“, behauptete Hanna. „Dann hat eben jemand seine Frau entführt“, schlug Timo vor. „Er ist auch nicht verheiratet“, sagte Hanna. Jetzt fanden wir es alle recht seltsam, dass unser Lehrer um Mitternacht Geld in den Park bringen wollte.

Für ganz frische Leseanfänger mit Unterstützung, ab 2./3. Klasse auch alleine zu schaffen – und wärmstens zu empfehlen!

Timo Parvela: Ella in der Schule Band 1: Abenteuer Schulanfang. Hanser Verlag 2020, 10.- €

Timo Parvela: Ella in der Schule Band 2: Was für ein Schultheater! Hanser Verlag 2020, 10.- €

Timo Parvela: Ella in der Schule Band 3: Eine turbulente Klassenfahrt. Hanser Verlag 2020, 10.- €

20.09.2020 - Die Geschichte und die Illustrationen sind herrlich 

unkonventionell und eigenwillig!

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Auch wenn ihr Lieblingsonkel Tommy nicht so gut Fußball spielen kann wie Luzie Libero, liebt sie es doch, mit ihm die Tage zu verbringen. Bis Günther plötzlich in Tommys Küche sitzt, sich wie zuhause zu fühlen scheint und bei all ihren Ausflügen dabei ist. Was soll das denn, was denkt sich Onkel Tommy denn dabei? Luzie ist sauer und würde fast am liebsten für immer und ewig im Bett liegen bleiben und sich langweilen. Aber das ist dann doch zu langweilig. Und als Tommy sich dann eines Tages nicht wohl fühlt und sie bittet, mit Günther zu spielen, entdeckt Luzie etwas an Günther, das Tommy nicht bieten kann...

Wer die Franziska-Bücher von Pija Lindenbaum mag, wird auch Luzie lieben: frech, unkonventionell, liebenswert und eigenwillig – genau wie die Geschichte und die Illustrationen dazu. Toll!

Pija Lindenbaum: Luzie Libero. Beltz Verlag 2020, 13.95 €

27.09.2020 - Das Buch der Woche ist diesmal ein VERLAG der Woche!

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Es gibt gut Nachrichten, liebe Comic-Freunde und -Freundinnen! Mit viel Mut, dem richtigen Gespür und ein paar der wohl besten deutschsprachigen (Comic-)Zeichner*innen, die man gerade finden kann, hat sich der kleine Berliner Kibitz-Verlag vor ein paar Monaten mit einem feinen Programm von 5 Titeln auf den Buchmarkt gewagt: Herzlichen Glückwunsch! Wir haben natürlich gleich alle gelesen und sind überzeugt - nicht nur von der Idee eines Verlages für KinderComics, sondern auch von dem ersten Programm.

 

Martin Baltscheit und Anne Becker haben zusammen eine tolle Geschichte erzählt und gezeichnet zu einem Thema, das wohl fast jede*r kennt: Wie oft trifft man Hunde und ist ein bisschen unsicher oder ängstlich und schon kommt der typische Hundebesitzer-Spruch: Mensch, der will doch nur spielen/der hat doch mehr Angst vor dir als du vor ihm. Genau das probiert Selma jetzt mal aus, was der Hund wirklich will, denkt und erlebt. Sie tauscht mit einem Pudel und lebt 24 Stunden ein Hundeleben, während der Pudel in ihrem Körper die Grill-Würstchen seines Lebens essen darf. Ganz schön aufschlussreich und erhellend, was Selma da erfährt. Ein klasse Comic für Hundefans und -fürchter ab 6 Jahren. 

Baltscheit & Becker: Selma tauscht Sachen. Ein Hundeleben. Kibitz Verlag 2020, 15.- €

 

Mattis spielt eindeutig lieber Theater als er Mathe übt. Doch die Mathearbeit steht vor der Tür und Mattis kann den Stoff noch nicht. Da muss ein Zauber her! Zum Glück hilft Kiste gerne und gibt Mattis ein paar Tropfen des Mathezaubers von Zauberer Bartelstrunk, das wird bestimmt helfen. Und wie das hilft! Mattis rechnet wie ein Genie, überhaupt spricht er nur noch in Zahlen und Rechenaufgaben – er kann gar nicht mehr anders! Au weia! Ob das zu viele Tropfen waren? Was wird jetzt aus dem Theaterstück, die Aufführung steht bevor?! Zum Glück ist tiefer Winter voller Schnee und Eis, und da geht so einiges auch ohne echten Zauber...

Wieder eine super Geschichte in einem großartig gezeichneten Comic!

Patrick Wirbeleit & Uwe Heidschötter: Kiste Band 5: Mathemagie. Kibitz Verlag 2020, 15.- € (ab 7 Jahren)

 

Eine psychologisch überzeugende und spannende Detektivgeschichte mit verblüffendem Ende erzählt und zeichnet Tanja Esch in ihrem sehr eigenen Stil, an den man sich gewöhnen muss, um ihn und seine Schlichtheit und scheinbare Naivität dann um so mehr zu schätzen. Doch auch die Geschichte überzeugt, zeigt sie doch, wie Gerüchte, Vorurteile und Misstrauen entstehen können und zugleich, wie entwaffnend man darauf reagieren kann.

Die Detektivbande um Ulf und seine Freunde haben die Neue, Uli, auf dem Kieker. Irgendwas stimmt mit ihr und ihrer Familie nicht, da muss geforscht, beschattet und spioniert werden, ganz klar. Ulf ist das nicht so klar, er findet Uli eigentlich ganz nett, aber nicht mitmachen geht auch nicht. Und dann gibt es plötzlich wirklich seltsame Vorkommnisse und alles deutet darauf hin, dass die Familie etwas mit Außerirdischen zu tun hat...wie aufregend!

Tanja Esch: Ulf und das Rätsel um die Neue. Kibitz Verlag 2020, 15.- € (ab 8 Jahren)

 

In Haus Nr 8 – Eine farblose Familie erzählt Patrick Wirbeleit eine schräge Fantasy-Geschichte, die von Sascha Wüstefeld wild und überbordend gezeichnet wird. 

Als Tim in dem neuen Haus, in das er und seine Eltern (schon wieder!) umziehen mussten, einen seltsamen Stöpsel im Keller zieht, fließt plötzlich alle Farbe aus dem Leben der Familie (was im Comic natürlich hervorragend gezeigt werden kann!). Seltsamerweise sind die Eltern eher resigniert als panisch oder verängstigt und unternehmen auch nichts dagegen. Tim allerdings versucht, auf eigene Faust herauszufinden, was es damit auf sich hat, und entdeckt allerlei unglaubliche Geheimnisse, die dieses Haus birgt.

 

Meinen Geschmack treffen die prallen, vollen Zeichnungen, die diesmal nicht matt wie in den anderen Comics, sondern glänzend daherkommen, nicht so, aber bestimmt findet auch diese phantasievolle Geschichte ihre Fans. Und so viele Andeutungen, wie über die Mutter (eine Hexe!) und das Haus gemacht werden, folgen sicher noch weitere Bände!

Patrick Wirbeleit/Sascha Wüstefeld: Haus Nr 8 – Eine farblose Familie. Kibitz Verlag 2020, 15.-. € (ab 8 Jahren)

 

So wenig Worte, so ausdrucksvolle und saukomische Typen, so eine witzige Mini-Geschichte – eigentlich muss dieses Büchlein auf absolut jedem Geburtstagstisch liegen!

Anke Kuhl: Geniale Geschenke. Kibitz Verlag 2020, 10.- €

04.10.2020 - Und nochmal zwei Comics, diesmal für etwas ältere Comic-Fans:

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Begonnen haben Esthers Tagebücher als sie zehn Jahre alt war, jetzt ist der vierte Band erschienen, in dem sie ihr Leben als 13-Jährige schildert, wie schon zuvor mit viel Humor, total lebensnah und unzensiert. Es hat sich einiges geändert in ihrem Leben, angefangen hat es mit einer Zahnspange. Esther  beobachtet genau, wie sich ihre Freundinnen verändern, aber auch an sich selbst stellt sie nicht nur neuerdings komische Hände und leider hin und wieder Pickel fest, sie bemerkt auch große Stimmungsschwankungen und hat ungewöhnliche Gedanken und Träume. Geblieben ist die Erkenntnis, dass Jungs total bescheuert sind, die meisten rüpelhaft und dumm (allen voran ihr eigener Bruder) – obwohl manche echt gut aussehen können...

Lustig, liebevoll und sehr authentisch!

Riad Sattouff: Esthers Tagebücher. Mein Leben als Dreizehnjährige. Reprodukt 2020, 20.- €

 

 

In der Traditioin der Ligne claire von Hergé (Tim & Struppi) zeichnet Max De Radiguès seinen leicht unheimlichen Comic über die Zwillinge Stig und Tilde. Die beiden müssen nach alter Tradition im Alter von 14 Jahren einen Monat ohne Erwachsene auf einer Insel verbringen, auf der allerdings auch alle anderen 14-Jährigen sind, sowie Hütten, Lebensmittel und sogar Internet. Ein ganz so dramatisches Abenteuer, wie ihre Mutter es Ihnen weismachen will, wird es also doch nicht. Dachten die beiden – bis sie im Gewitter den Kurs verlieren und vor einer ganz anderen Insel auf Grund laufen. Die wiederum tatsächlich unbewohnt zu sein scheint – oder doch nicht? Es wird spannend, als Tilde aus Holz geschnitzte Köpfe entdeckt und ahnt, dass sie nicht alleine sind...

Max de Radiguès: Stig &Tilde : Die Insel der Verschollenen. Reprodukt 2020, 15.- €

11.10.2020 - Das Buch der Stunde?

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Trägt dieses Buch zu einer fruchtbaren Diskussion über unsere freiheitliche Gesellschaft und ihre Grenzen bei oder ist es nur ein spannender Roman, der auf der Pandemiewelle reitet? Ist es das Buch der Stunde oder fördert es im Gegenteil womöglich den Glauben an Verschwörungstheorien?

Schwer zu sagen. Klar ist, dass Schäuble seine Dystopie mit heißer Feder so richtig schön nah aus unserer Gegenwart mit der Corona-Pandemie 2020 heraus weiterentwickelt hat. Klar ist auch schnell, dass es ihm um die Story geht, nicht um die Personen und ihre Geschichten. Die Mutter und Oma stehen für eine Art zu leben und zu denken, bekommen aber keine Tiefe, der junge Cleaner (Menschen, die nachts die Häuser desinfizieren) Toko bleibt blass und schablonenhaft. Doch was ist die Story? Die „große Pandemie“ hat etwa 10 Jahre später in einen totalen Gesundheits-Überwachungs-Staat geführt, dessen Mantra lautet: Gesundheit ist wichtiger als Freiheit. Entsprechend wird die Bevölkerung – zu ihrem eigenen Schutz, versteht sich – dauernd kontrolliert, der Gesundheitszustand überwacht und gegebenenfalls durch Schutzmaßnahmen wie Quarantänepflicht sichergestellt. Dass dabei auch alle anderen Daten mit erhoben und kontrolliert werden, schadet ja nichts, solange man sich nichts vorzuwerfen hat, oder? Das denkt die 15jährige Schilo anfangs, doch schon bald hinterfragt sie die Gründe und Grenzen der Verbote und Gesetze. Ist es ok, dass sie die Nachtpille nehmen muss? (Die Nachtpille heißt übrigens beschönigend „Nachtheiler“ - und sowieso sind die Namen für die Produkte und Institutionen ziemlich klasse ausgedacht: Schule ist Home learning – mehr Abstand ist schlauer, der Controller am Handgelenk wird beworben mit Controller – damit jeder weiß, dass es dir gut geht und die einzige erlaubte Kontaktperson wird registriert bei social health – zu viel macht krank.) Lebt ihre Oma wirklich aus eigener freier Entscheidung zu ihrem eigenen Schutz in dem „Raum der Einsicht“ hinter Glas? Und kann man das auch einem 8-jährigen Jungen zumuten, wie es dem kleinen Bruder von Samira, Schilos bester und einziger Freundin, passiert? Als Schilo beginnt, ihre Nachtpillen zu entsorgen, um verbotenerweise den Cleaner Toko kennenzulernen, öffnen sich plötzlich andere Welten und Wege für sie. Und dann wird Samira weggesperrt und Schilo muss sich entscheiden, welchen Weg sie gehen will.

Schäuble weiß Effekte zu setzen, kennt sich aus mit Cliffhangern und Spannungsbögen, so dass die Lektüre nie langweilig wird. Dabei wäre das gar nicht immer so wichtig gewesen, denn die Brisanz des hochaktuellen Themas selbst fasziniert ungemein. Man kommt gar nicht umhin zu vergleichen, zu beobachten, zu entdecken: Welche Zustände, von denen in der Dystopie berichtet wird, herrschen tatsächlich bereits im Pandemiejahr 2020 bei uns? Welche Maßnahmen im Roman sind konsequente Weiterführungen der jetzigen realen? Was ist reine Phantasie? So entwickelt sich im besten Fall vor dem Entwurf der Dystopie ein kritisches Bewusstsein für das Hier und Jetzt. Oder aber man tappt in die Falle: Ohne dieses kritische Bewusstsein bei der Lektüre, ohne Lust am Selberdenken oder Möglichkeiten für Gespräche über das Buch kann es auch als Bestätigung schräger Verschwörungstheorien (à la wir-werden-jetzt-alle-zwangsgeimpft-und-dabei-zur-besseren-Überwachung-gleich-gechipt) verstanden werden. Immerhin sind die angesprochenen Leser*innen erst um die 14 Jahr alt. Das Buch der Stunde also? Vielleicht - wenn der Zusammenhang, die Einbettung und der Hintergrund stimmen.

Martin Schäuble: Cleanland. Fischer Verlag 2020, 14.- €

18.10.2020 - Eine Perle des Duos Rautenberg/Budde, die sich gegenseitig zur Höchstform bringen!

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Wenn man möchte, dass Kinder Gedichte genießen und etwas mit ihnen anfangen können, sollte man versuchen, den Zugang dazu so früh und so selbstverständlich wie möglich zu gestalten. In fast jeder meiner Büchervorstellungen findet sich daher ein Gedichtband für Kinder. Diesmal ist es eine Perle von dem großartigen Duo Rautenberg/Budde, die schon mit ihrem Skelett unterm Bett eine preisgekrönte Gedichtsammlung vorgelegt haben. Eine solche gegenseitige Bereicherung findet man nicht alle Tage: Die Bilder kitzeln aus den lustigen Gedichten den Witz erst richtig hervor und fügen wo es passt mit ihren herrlich schrägen Figuren einen Hauch nötiger Abgründigkeit hinzu. Klasse!

Arne Rautenberg/Nadia Budde: Kuddelmuddel, Remmidemmi, Schnickschnack. Peter Hammer Verlag 2020, 14.- €

25.10.2020 - Große Literatur für kleine Leser*innen:

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Großvater – fragt Gottfried leicht verunsichert ob seiner großen Lüge – manchmal kann es doch auch gut sein, wenn man lügt? Und der Großvater antwortet: Ja. Manchmal ist Lügen wohl die einzige Möglichkeit, richtig aufrichtig zu sein

Das zu verstehen, ist eine Zumutung für die 8, 9 oder 10-jährigen Leser*innen – eine großartige Zumutung, wie die ganze Geschichte, samt der alles andere als lieblichen oder milden Illustrationen der Belgierin Kitty Crowther. Denn Gottfried lügt nicht nur seine Eltern an, um mit dem Großvater auszureißen, und das fällt ihm beängstigend leicht. Er erfährt auch, dass Erwachsene die Wahrheit manchmal gar nicht hören wollen und lieber die Lüge glauben. Und er bereut am Ende auch nicht etwa sein unerlaubtes Handeln. Gottfried hadert zwar mit der Lüge und grübelt, ob das Ausreißen mit dem Opa vielleicht zu gefährlich oder einfach falsch war. Doch er kommt zu dem Ergebnis, dass er das Richtige getan hat. Denn der so unausstehliche alte Mann, der im Krankenhaus alle tyrannisiert, kommt auf dieser Abschiedsreise zur Ruhe und findet seinen Frieden. Mit Gottfrieds Hilfe. Und dessen großer Lüge. Was Kinder daraus lernen? Empathie, Verständnis, kritisches Denken, Urteilsfindung – was man in großer Literatur eben lernen kann. 

Ulf Stark: Die Ausreißer. Urachhaus 2020, 16.- €

01.11.2020 - Endlich wieder ein Rico-und-Oskar-Abenteuer:

ein wunderbares Lesegeschenk für lange Herbsttage!

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Toll, wie sich hier ein komplexer Fall von Betrug in raffiniertem Ausmaß und ein altes Familiendrama rund um falsche Identitäten, Schuld und Verbitterung mit den höchst aktuellen und dringenden Problemen von Rico, Oskar und seiner Gang verbinden. Die wollen eigentlich nur eines: ihren Spielplatz retten, der von einer kaltherzigen alten Dame und ihrem schmierigen Großneffen verkauft werden soll. Doch dann streiten sich Rico und Oskar, was der Gang und den beiden selbst total falsch vorkommt, doch daran ändern können sie erstmal nichts. So gehen Rico und Oskar getrennte Wege – und daran, wie genial sie sich dabei trotzdem ergänzen und wie unausweichlich sie aufeinander zuarbeiten, kann man gleich erkennen, dass sie zusammengehören wie die Luft und das Atmen. Frau Dahling spielt eine tragende Rolle, und ihrer Vorliebe für schnulzig-dramatische Historien-Liebesgeschichten verdanken wir die wunderbare Form der Geschichte: Rico selbst schreibt die Abenteuer, die Oskar ohne ihn erlebt hat, im Stil der Dahling’schen Lektüre. Große klasse!

Andreas Steinhöfel: Rico, Oskar und das Mistverständnis. Carlsen Verlag 2020, 16.- €

08.11.2020 - Ein großartiges neues Kinderbuch von Anna Woltz

– was für ein Glück!

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Manchmal glaubt man, dass man das Schicksal beeinflussen kann, weil man etwas dabei hat, Haifischzähne zum Beispiel, oder weil man etwas Großes vollbringt. Ist es verrückt, ist es Aberglaube, ist es Magie? Was immer es ist, wenn man einmal angefangen hat, daran zu glauben, muss man die Sache auf alle Fälle zuende bringen. Atlanta hat sich vorgenommen, in einem Tag und einer Nacht 360 Kilometer um das IJselmeer mit dem Fahrrad zu fahren, denn in 24 Stunden bekommt ihre Mutter das Ergebnis der Krebsuntersuchung. Gleich auf den ersten Metern trifft sie auf Finley, der auf der Flucht zu sein scheint, und obwohl das gar nicht in ihren Plan passt, merkt sie, wie viel besser es ist, zu zweit zu sein. Finley aber ist aus Wut und Enttäuschung über seine Mutter abgehauen, und ihre Glücksbringer-Haifischzähne hat er auch geklaut. Atlanta weiß, wie wichtig die sind, und so ändern sie schließlich ihre Pläne und machen alles anders als gedacht. Und so viel besser. 

Klingt kitschig? Vielleicht, wenn jemand anderes es geschrieben hätte, nicht bei Anna Woltz. Wie schon in ihren anderen Büchern trifft sie den Ton wunderbar, direkt, ohne je zu entblößen, offen, liebevoll, mit einem feinen Humor und großem Verständnis.

Anna Woltz: Haifischzähne. Carlsen Verlag 2020, 10.- €

15.11.2020 - ​​Eine starke Dystopie und ein spannender Pageturner!

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Nicht besonders lebensfreundlich ist diese Erde nach der Klimakrise: unerträglich heiß, ausgetrocknet, gleichzeitig überfallen Stürme, Überschwemmungen, Hurrikans das Land. Es gibt Versuche der Wiederherstellung, Bäume werden gepflanzt und Ideen entwickelt, wie man die Erde herunterkühlen kann, das Eisschild der Arktis wiederherstellen kann ...und natürlich gibt es die Wenigen, die sich auch in dieser Situation bereichern können und so die vereinzelten noch bewohnbaren Stücke Land des Planeten beanspruchen. Doch von all dem merken die meisten der inzwischen 10 Milliarden Menschen sowieso nicht viel, denn das Leben spielt sich in virtuellen Welten ab, der kurze tägliche Zwischenstopp in der Realität wird von vielen schon als Zumutung gesehen. Man liegt in einer Kapsel in einem Depot und reist in die Welten seiner Wahl, vom mittelalterlichen London zu den Dinosauriern, von der irischen Insel nach Venedig, von Vampirland in einen Dschungel. Es gibt alles und es fühlt sich fast echt an. Nur der Tod ist eine Illusion, man wacht in diesem Fall in seiner Kapsel auf und muss neu beginnen. So war es bisher jedenfalls. Doch Jana, Welten-Designerin bei Mastermind, muss entdecken, dass in einer und bald in mehreren ihrer Welten irgendetwas ganz und gar nicht stimmt, es gibt viel zu viele Ausfälle und zumindest eine Person davon ist auch in der realen Welt gestorben. Ein Unfall? Wieso möchte Mastermind sie dann nicht selber herausfinden lassen, was los ist? Als Jana sich trotzdem unerlaubt in ihre Welten aufmacht, muss sie feststellen, dass sie verfolgt wird, dass ihre Weltenauswahl immer weniger wird, und spätestens als ihr Kollege ihr die Botschaft „Der Tod ist keine Illusion“ zukommen lässt, weiß sie, dass sie in echter Lebensgefahr schwebt...

Ein spannender Pageturner, an dem man dranbleiben muss, sonst machen einen die vielen virtuellen Welten vor allem im ersten Drittel ganz kirre. Liest man die Geschichte aber in einem Schwung weg, wird man mit einer höchst aufregenden, aktuellen und hervorragend ausgearbeiteten Dystopie belohnt!

Ursula Poznanski: Cryptos. Loewe 2020, 19.95 €

22.11.2020 Aus immer aktuellem Anlass ein paar anregende

neue Sachbücher zum Thema:

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So einiges ist sehr erhellend in diesem Buch, fast glaube ich, dass auch Erwachsenen staunen, wenn ihnen noch einmal vor Augen geführt wird, worin Plastik alles enthalten ist – in ihrer Schuhsohle, den Sportklamotten, dem Shampoo. Und ist ihnen wohl bewusst, dass der größte Energie-Verbraucher das Internet mit seinen riesigen Rechenmaschinen ist? Zum Glück lernen die Kinder in diesem Buch das und mehr rund um das Thema Plastik - und schaffen es hoffentlich, den Erwachsenen die vielen guten Tipps zur Vermeidung, zum Sparen und Recyceln nahezubringen. (ab 8)

Nadine Schubert/Inka Vigh: Grüne Helden. Ohne Plastik geht es auch. Magellan Verlag 2020. 15.- €

 

 

Man kann sich sein Klima-Wissen auch auf sehr unterhaltsame und zerstreuende Weise aneignen. In diesem Buch sind 123 kurze Beiträge mit kuriosen und weniger kuriosen Fakten versammelt, beginnend mit den Zusammenhängen und Grundlagen unserer Existenz auf der Erde über die Veränderungen und deren Folgen  bis zu den Hoffnungsschimmern einiger Lösungsvorschläge. Warum Haie uns das Überleben sichern, Kot den Wald gesund hält oder Wüsten den Fischen Nahrung liefern, wo man überall Plastik gefunden hat, warum Rauchen nicht nur schlecht für deine Gesundheit  und in Peking und Shanghai manchmal der Tag fast so dunkel wie die Nacht ist, oder dass pro Minute 17 Fußballfelder Wald verschwinden – vor allem mit einem soliden Vorwissen machen diese „Bonus-Fakten“ samt der feinen Illustrationen großen Spaß. (ab 11)

Mathilda Masters: 123 superschlaue Dinge, die du über das Klima wissen musst. Hanser Verlag 2020, 18.- €

 

Bullet Journals sind ja in diesem Jahr sehr angesagt, auch selbst hergestellte – was kein Wunder ist, selten hat man so viel Zeit, sich seinen eigenen Kalender zu entwerfen, zu gestalten, zu schreiben und zu zeichnen. Hier muss man nicht mehr viel selber zeichnen, kann aber trotzdem mitgestalten und vor allem anfangen, sich zu engagieren. Die Mischung aus wenigen ausgewählten Fakten – eine Doppelseite pro Monat - und umso mehr Befragungen, kleinen Tests, einem Quiz hier und da, Bestandsaufnahmen und Vorsatz-Ideen zwischen den Monatsübersichten und Wochenplänen macht einen ansprechenden und lockeren Eindruck und gibt viel Raum für persönliche Anmerkungen. Dabei merkt man schnell: So leicht und spaßig die vielen Umfragen wirken - sie bringen dich viel effektiver zum Nach- und Umdenken als so manche wissenschaftliche Abhandlung. (ab 12)

Aufstehen, Losgehen, Welt retten. Loewe Verlag 2020, 12.95 €

29.11.2020 - Eine Geschichte, die so oder ähnlich viel zu oft passiert – und daher sind neue, kreative, starke Wendungen immer willkommen!

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Den Blick, den ihr immer-schon-Freund Nicki ihr damals zuwarf, als sie sich bei der Klassenaufteilung für Lina und Celine und gegen ihn entschieden hat, möchte Amelie am liebsten vergessen. Aber inzwischen kommt ihr der in Alliterationen sprechende Freund sowieso auch immer häufiger kindisch vor. Nur sind Lina und Celine leider nicht wirklich Freundinnen geworden. Naja, kein Wunder: Die beiden sind hübsch und beliebt, während Amelie eher schüchtern ist und dazu die Pyramiden-Körperform hat, mit unten viel zu viel und oben fast nichts. Da ist es genauso wenig ein Wunder, dass Elias aus der Neunten sie gar nicht erst wahrnimmt. Doch das ändert sich, als Amelie mit Kira – frech, direkt und selbstbewusst – ein Referat vorbereiten muss und die wiederum Elias kennt und einfach mal schnell den Kontakt zwischen Amelie und ihm herstellt. Wow, Amelie ist begeistert, Elias chattet und skypt mit ihr und scheint sich wirklich für sie zu interessieren! Darüber vergisst Amelie sogar den hässlichen Streit ihrer Eltern, und Nicki sowieso. Aber wieso ist Elias nur online so nett und ignoriert sie in der Schule? Amelie ahnt es (und die Leser*innen mit ihr), doch sie muss offenbar erst in der Schlammpfütze landen, um zu verstehen...

Ein paar holprige Kapitelsprünge, kaum hergeleitete Sinneswandlungen und hölzerne Nebenfiguren stören den Lesefluss der spannenden Erzählung nur wenig, denn Amelies Geschichte kennt man und erwartet daher mit Spannung, wie sie in diesem Fall endet. Und man wird belohnt mit einer starken und überraschenden Wendung (bevor sich alles in einem Streuselkuchen-happy-end auflöst).

Jutta Nymphius: Oben ohne. Tulipan 2020, 13.- €

06.12.2020 - Manchmal machen Bücher einfach Spaß :)

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Oh, hier treten ja wirklich alle Stereoptypen auf, dachte ich nach den ersten Kapiteln. Sieben Kinder werden zu Beginn vorgestellt, und tatsächlich lernt man sieben wandelnde Klischees kennen, von der stillen Leseratte, die sich Freunde wünscht (kriegt sie) über die zukünftige Influencerin (wird bekehrt), den ständig wütenden Krawallmacher, dessen Vater arbeitslos ist (dichtet und kocht am Ende) bis hin zu dem kleinen Wunderkind, der sich nur wünscht, dass sein Vater ihn wahrnimmt (tut er). Es fehlen auch nicht der freundliche Ladenbesitzer mit Migrationshintergrund, der Pfefferminztee und Pistazien anbietet, das neu zugezogene Flüchtlingskind und natürlich Fräulein Teetee, die mysteriöse ältere Dame, die der gute Geist des Viertels und plötzlich spurlos verschwunden ist. Die sieben Kinder freunden sich über dem Kriminalfall der verschwundenen Dame an – Emil lässt grüßen -, und man ahnte es, sie erleben dann nicht nur ein spannendes Abenteuer, sondern auch die Kraft der Freundschaft, des Zusammenhaltens und gegenseitigen Respekts. Und, was soll ich sagen: So vorhersehbar und schablonenhaft die Sache schien – es hat großen Spaß gemacht, die flott geschriebene Geschichte zu lesen.

Antje Herden: Parole Teetee. Tulipan 2020, 13.- €

13.12.2020 - Das Buch der Wochen ist diesmal eine neue Reihe!

Gulliver von Beltz & Gelberg: super lesbar 2020

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Ab 9 Jahren

Theo, die für ihren langen Namen Theodora Augusta viel zu klein, kurz und dünn ist, kennt die drei Freunde Leonie, Professor und Jacke aus ihrer Klasse. Doch sie ist neu und eher schüchtern, so dass sie bisher noch nicht mit ihnen gesprochen hat. Das ändert sich schlagartig, als die drei sie im Schokoladenladen treffen und sofort in ihren „Fall“ einweihen: Das Hängebauchschwein von Herrn Ritter ist verschwunden. Und dann ist plötzlich auch Herr Ritter selbst – nunja, nicht wirklich verschwunden, aber unsichtbar! Es wird spannend, als er den Vieren berichtet, dass er erpresst wird... Eine gelungene Krimi-Geschichte mit allem, was dazu gehört, vom Cliffhanger bis zum falschen Verdacht, mit viel Spannung und sympathischen Held*innen, leicht geschrieben und großzügig gesetzt – ein tolles Buch in der Reihe super-lesbar!

Anna van Lanen: Das Schoko-Geheimnis. Gulliver bei Beltz & Gelberg 2020, 9.95 €

 

Schneewittchen ist das Märchen, das die 4b dieses Jahr aufführen wird, und da gibt es ja nun genug kleine unauffällige Nebenrollen wie Zwerge oder Bäume, denkt sich Ben. Doch dann passiert es: Seine Lehrerin hat beschlossen, dass er der Prinz sein soll. Er, der jederzeit Star Wars nachspielen würde, soll Schneewittchen küssen, die von der schrecklichen Melissa gespielt wird? Das geht gar nicht! Doch als seine Klassenkameraden weder auf Bestechung noch auf Erpressung reagieren, gibt Ben die Hoffnung fast auf. Fast... Flotte und lustige Geschichte mit einem herrlichen Ende! Genau richtig für Jungs, die witzige Geschichten lieben, aber nicht unbedingt so gerne und viel selber lesen möchten.

Sabine Engel: Bühne frei für Ben! Gulliver bei Beltz & Gelberg 2020, 9.95 € 

 

Hannas größter Traum – bei dem berühmten Karatetrainer trainieren zu dürfen, vielleicht sogar mit zur Landesmeisterschaft genommen zu werden – scheint zu platzen, weil ihre Oma so komische Sachen macht, dass die anderen Mädchen, allen voran Sofia, sich über sie lustig machen. Da kann sich doch kein Mensch richtig auf das Training konzentrieren. Kein Wunder, dass Hanna irgendwann ausflippt und ihre Oma anraunzt, sie solle sich ihre blöden Federn, Ketten, Trommeln, Räucherstäbchen und magische Glückstiere sonstwo hinstecken! Aber klappt es besser, seit ihre Oma sich ganz still und unauffällig verhält? Gut fühlt sich das jedenfalls auch nicht an... Sehr ehrlich und ungewöhnlich, wie die Heldin auf den Punkt bringt, was Erwachsene oft vergessen: zuhören, erkennen, was jemandem wichtig ist, und nicht peinlich sein!

Christine Stahr: Hanna und der Flug des Adlers. Gulliver bei Beltz & Gelberg 2020, 9.95 €

 

Irgendwie sind die anderen Kinder komisch, findet Noah. Warum möchten sie nicht immer und überall über Dinosaurier sprechen, die doch das interessanteste (genau genommen das einzig interessante) Thema der Welt sind? Wieso essen sie alles, wenn doch Spaghetti mit Tomatensoße am besten schmecken? Noah beschließt, dass die anderen mehr wie er sein müssten – oder es mehr von ihm geben müsste. Das zweite passiert dann tatsächlich: Noah verdoppelt sich jede Nacht. Wenn das nicht cool ist...

Leider ist das eher weniger cool, sondern platt und schnell langweilig, zumal es weder Erklärungen für das Verdopplungsphänomen noch mögliche Ausgänge gibt. Noah sieht schließlich ein, dass die anderen Kinder doch irgendwie spannend sein können. Dafür dieser unausgegorene Aufwand? Nun, nicht alle Bände in der Reihe sind großer Würfe – hoffentlich gerät ein vorsichtiger und ablehnender kleiner Lesemuffel nicht gerade an dieses Super-lesbar-Exemplar.

Guy Bass: Noah Unendlich. Gulliver bei Beltz & Gelberg 2020, 9.95 €

 

Ab 11 Jahren

 

Sam, Sharif, und Bina sind ein eingespieltes Team: Sharif, der Kletterer und Schauspieler, Bina, die alles repariert, was ihr in die Finger kommt, und Sam, der sich einfach alles merken kann, was er einmal gesehen oder gehört hat. Als die drei erfahren, dass Kevin, der Anfang des Schuljahres neu in die Klasse gekommen ist, noch nie am Meer war, beschließen sie, ihn genau dorthin zu bringen. Mit dem Auto ist das Meer nur drei Stunden entfernt – doch keine der Eltern hat Zeit oder Lust, sie zu fahren. Mit dem Zug geht auch, entscheiden die vier. Doch dann geht alles schief: Der Zug wird durch einen umgestürzten Baum gestoppt, die vier werden ausgeraubt und stehen plötzlich ohne Geld und Handy in der Pampa. Jetzt wird es spannend...

Der Text ist leicht, spannend, und überzeugt mit Esprit und Botschaft, das Layout ist ansprechend und bietet auch dem größten Lesemuffel schnelle Erfolgserlebnisse.

Oliver Uschmann/Sylvia Witt: Meer geht nicht. Gulliver bei Beltz & Gelberg 2020, 11.95 €

 

Ein bisschen liest sich der Text wie ein Tagebuch, das Ketty in den Wochen nach ihrem Unfall schreibt: wie sie zu sich kommt aber auch nicht, denn sie erinnert sich nicht, weder an den Unfall, noch an sich oder ihr Leben vor dem Unfall. Der Arzt beruhigt sie, das käme alles langsam zurück – doch als tatsächlich die ersten Momente wieder auftauchen, weiß Ketty nicht, ob sie wirklich will, dass alles wieder zurückkommt. Auch ihr altes Ich...

Ein bisschen liest sich der Text wie eine kleine Idee, um die herum eine Geschichte gebaut wird, die eigentlich gar nicht für ein ganzes Buch reicht. Aber wenn man nicht gerne liest, ist so eine übersichtliche Geschichte vielleicht goldrichtig.

Karen McCombie: Mein geheimnisvolles Ich. Gulliver bei Beltz & Gelberg 2020, 9.95 €

 

 

Das anspruchsvollste Buch in dieser neuen Reihe „superlesbar“ ist eindeutig die Geschichte von Tono und Kemala. Bitterarm ist Tonos Familie, das Graben nach Zinn-Erz im Meer und an Land ist ihre einzige Chance auf ein bisschen Geld. Doch die Arbeit ist gefährlich, die Gruben, in denen sie suchen und graben, stürzen oft ein und die Menschen darin – Kinder, Erwachsene, Alte – werden unter den Schlamm- und Erdmassen begraben. So starb Tonos Vater. Seine Mutter ist mit Tonos Schwester auf eine Nachbarinsel gegangen, um einen Job zu finden, Tono lebt bei seinem Onkel und geht mit ihm und seinem Cousin jeden Tag auf das alte Floß und ins Meer, um in einer der Gruben nach Zinn zu tauchen. Bis auch dort ein Unfall passiert und die Grube einbricht. Tono kann seinen Cousin gerade noch retten und wird selbst verschüttet. Wie durch ein Wunder überlebt er und entdeckt in seiner immer noch zur Faust geballten Hand einen roten Stein. Ob der für seine Rettung gesorgt hat? Kemala, das Mädchen, das ihn auf Geheiß des Onkels pflegt, während er im Koma liegt, glaubt ganz fest daran. Und hat auch schon eine Geschäftsidee für Tono...

Der Autor schafft es, in schlichter Sprache und flüssig und flott voranschreitender Story nicht nur unglaublich viel Spannung zu erzeugen, sondern auch die Gefühle und Gedanken der in schrecklichen Verhältnissen lebenden Jugendlichen Tono, Kemala und all den anderen so eindringlich zu schildern, dass man nach der Lektüre sofort beginnt, über Kinderarbeit in Rohstoff-Mienen in Afrika zu recherchieren. Wer weiß, vielleicht schaut man sich sein Handy danach mit anderen Augen an. 

Steve Cole: Jäger in der Tiefe. Gulliver bei Beltz & Gelberg 2020, 10.95 €

20.12.2020 - Bücher der Woche zu Weihnachten

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Jedes Jahr erscheinen neue Weihnachtsbilderbücher und Geschichten für Kleine und etwas Größere Kinder, alle Jahre wieder denken sich Autorinnen und Autoren Erzählungen rund um die Geburt Jesu aus, modern und weniger modern, aktuell oder zeitlos, witzig und spannend und mit dem Wunsch und Willen, die Botschaft an das moderne Kind zu bringen. Manche sind lustig, machen Spaß oder sind originell, die wenigsten berühren. Diese Geschichte, die daherkommt wie ein altes Märchen, traditionelle Abläufe aufnimmt und doch an manchen Stellen moderner nicht sein könnte, schafft es. Und man merkt: Es ist die unschuldige, aufrichtige Selbstlosigkeit, die uns immer noch und immer wieder berührt. Vielleicht, weil man sie so gut wie nur noch im Märchen von Jesu Geburt antrifft.

Jan de Leeuw/Matthias de Leeuw: Der kleine König folgt dem Stern. Gerstenberg Verlag 2020, 13.- € ab 5 Jahre

 

Dass jemand mal eine falsche Nummer erwischt, kennt man ja. Aber dieser SC kennt Nikkels Namen und scheint ein echtes Problem zu haben, eine WhatsApp nach der anderen rauscht in Nikkels neues Handy. Als er sich schließlich bereit erklärt, ihn zu treffen, traut er seinen Augen nicht: Der Weihnachtsmann persönlich steht vor ihm. Den gibt es doch gar nicht! Na, offensichtlich doch, ebenso wie die Rentiere und die Wichtel. Allerdings wird es Weihnachten selbst wohl nicht mehr lange geben, denn eben diese Wichtel streiken angesichts des ganzen modernen Technik-Krams, den die Kinder sich wünschen, und von denen die Wichtel so gar keine Ahnung haben. Ob Nikkel helfen kann?

Kirsten Boie: O du fröhliche Entführung. Oetinger 2020, 10.- € ab 7 Jahre

 

 

Weihnachten fällt aus! Kein Baum, keine Geschenke! Erstmal sind Lena und Josh furchtbar enttäuscht und finden die Sprüche ihrer Eltern, dass es nicht auf die Geschenke ankomme, sondern auf das Füreinander-Dasein, ziemlich daneben. Dann finden sie heraus, dass Weihnachten nicht nur bei ihnen ausgefallen ist, sondern auch bei einigen ihrer Freund*innen. Und als Josh schließlich auf die Idee kommt, dass der seltsame verletzte Vogel - vielleicht ein Trappatros, wie sein Vater vermutet - damit zusammenhängen könnte, werden sie aktiv. Und plötzlich sind ganz andere Sachen wichtig und Josh und Lena und ihre Freund*innen werden ein tolles Team, das einen genialen Plan verfolgt...

Juli Zeh: Alle Jahre wieder. Carlsen Verlag 2020, 12.- € ab 7 Jahre

 

 

Alle Jahre wieder: Schon im September beginnt Pauls Oma, Weihnachten zu planen: Alle kommen zu ihr und es gibt eine große Schüssel Heringssalat, wie immer. Doch diesmal schafft Pauls Mutter es, nein zu sagen: Weihnachten wollen sie dieses Jahr einmal alleine und in Ruhe feiern. Damit kommt Paul klar, seinen kleine Schwester Frieda jedoch ist entsetzt. Und als sie dann in der Schule auch noch hört, dass es den Weihnachtsmann gar nicht gibt, ist sie so verzweifelt, dass Paul es nicht mit ansehen kann. Er beschließt, ihr zu beweisen, dass es den Weihnachtsmann sehr wohl gibt. Dass er damit in Situationen gerät, die seine Klassenkameraden eher befremden, hätte er ahnen können. Doch die Lage verkompliziert sich, als seine Familienmitglieder der Reihe nach die Abmachung, Weihnachten dieses Jahr im engen Familienkreise zu feiern, unterwandern. Das tumultartige Finale ist absehbar – und so herrlich wild, sympathisch, lebendig und mit einem Hauch Weihnachtsmagie beschrieben, dass man fast geneigt ist, zum Telefon zu greifen und sämtliche Verwandten zum Weihnachtsfest einzuladen. 

Silke Lambeck: Das Weihnachtsmannprojekt. Gerstenberg 2020, 14.- € ab 10 Jahre

27.12.2020 - Ein Thema, das immer aktueller wird

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„Du denkst, dass dir das nie passieren wird. Aber stell dir mal vor: es kann jedem passieren.“ Als der Obdachlose das zu Winnie sagt, die ihn für die Schülerzeitung interviewt, läuft es Felix kalt den Rücken herunter und er realisiert zum vielleicht ersten Mal, dass er und seine Mutter bereits auf halbem Weg dahin sind. Seit Wochen leben sie in einem Campingbus, vorübergehend, wie die Mutter betont, doch irgendwie kann sie keinen Job halten, und ohne Job keine Wohnung. Mit vielen kleinen und größeren Lügen und einem strahlenden Lächeln schafft sie es immer wieder, eigentlich unmögliche Dinge zu erreichen, z.B. den Platz an der von Felix gewünschten Schule mit Französischzweig. Dort trifft er seinen alten Freund Dylan wieder und sie verstehen sich wie eh und je, und dort lernt er auch Winnie Wu kennen. Er hütet sich, von seiner Lebenssituation zu sprechen, auch, weil seine Mutter ihn immer wieder warnt vor dem Sozialamt, das angeblich nur Unheil anrichtet und Familien auseinanderreißt. Doch es fällt ihm immer schwerer, seine Freunde zu belügen, Hilfe ist nicht in Sicht und seine Mutter wird immer unglücklicher und greift zu Maßnahmen, bei denen Felix Bauchschmerzen bekommt. Da scheint plötzlich Rettung in Form einer Quizsendung zu nahen, bei der Felix mit seinem Wissen glänzen – und viel Geld gewinnen kann.

Die „unsichtbaren Obdachlosen“ - ein wichtiges Thema, nicht nur in Kanada, über das Susin Nielsen mit viel Verständnis, Humor, Liebe und Zuversicht erzählt. Unbedingt lesenswert!

Susin Nielsen: Adresse unbekannt. Urachhaus Verlag 2020, 17.- €

03.01.2021 - Genau das Buch, das man in den Rauhnächten anschauen möchte!

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So viele Geister (einige eher wenig bekannt, oder hat jemand schon einen Sauergeist, Schnaufgeist oder Plundergeist gesehen?)! Wer sind sie, woher kommen sie, warum sind sie da? Muss man Angst vor ihnen haben oder kann man sich mit Geistern vertragen? Herrlich schräge Geisterbilder, ungewöhnliche Geistercharakterisierungen und mutige Geisterjäger – was braucht man mehr?

Nadia Budde: Letzte Runde Geisterstunde. Kunstmann Verlag 2020, 15.- €

10.01.2021 Klein aber oho: Zwei wichtige Bücher für alle, die sich für unsere Gesellschaft, unsere Zukunft  interessieren.

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Die grundlegende Bedeutung der Sprache in unserer Gesellschaft und ihre Verzerrungen sind Thema des ersten Kapitels. Im zweiten Kapitel geht es um die Macht der Sprache, wie geframed und manipuliert und mit Wörtern Politik gemacht werden kann. Nachdem im dritten Kapitel Strategien rechtpopulistischer Sprache diskutiert werden, folgen im vorletzten Kapitel fünf Beispiele, die einem wirklich täglich genau so passieren können. Abschließend wird kurz skizziert, wie radikal höfliches Sprechen als Gegenmaßnahme gegen rechtspopulistisches Sprechen funktioniert. Besonders augenöffnend fand ich das ausführliche Glossar über rechtspopulistische Begriffe, ihren Gebrauch und ihre Wirkung.

Ein echt wichtiges Buch, denn: Durch Sprache bestimmen wir, in welcher Gesellschaft wir leben wollen. Sprache schafft Wirklichkeit.

Diskursiv: Sprich es an. Oetinger Verlag 2020, 7.- €

 

 

Wer hat es noch nicht gehört (oder sogar gedacht): Was hilft es, wenn Deutschland aktiv Klimaschutz betreibt, wenn der Rest der Welt nicht mitmacht? Oder: Mehr Klimaschutz schädigt unserer Wirtschaft. – Zu diesen und andere „Argumenten“, Aussagen und Klimamythen werden Fakten und Antworten angeboten, nachdem in einem ausführlichen ersten Teil des Buches die grundlegende Klimafakten dargelegt werden. In einem kurzen und hoch interessanten zweiten Kapitel wird diskutiert, wie es sein kann, dass Menschen noch immer den Klimawandel leugnen und warum Klimaschützer oft beschimpft werden. Und zum Abschluss gibt es Vorschläge und Anregungen, wie man selbst aktiv werden kann. Viele hilfreiche Informationen auf knappem Raum, kompakt und verständlich dargeboten.

Andrea Rings: Misch dich ein. Oetinger Verlag 2020, 6.- €

17.01.2021 - Braucht man einen Vater?

Oder ist ein Busfahrer nicht am Ende völlig ausreichend?

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Dass viele Menschen eine komische Beziehung zu ihren Vätern haben, hat Jana spätestens gemerkt, als die Väter ihrer Freundinnen aufhörten, cool zu sein, und irgendwann zu Typen wurden, „die nie Fragen stellten oder wenn dann die falschen“ – wenn sie nicht sowieso ganz verschwanden. Dennoch ist Janas Situation nochmal ein bisschen anders, da sie ihren Vater nicht einmal kennt. Er verschwand aus dem Leben ihrer Mutter vor Janas Geburt. Und sehr lange hat sie das auch nicht gestört oder sie hat nicht darüber nachgedacht. Bis jetzt. Plötzlich, sie ist schon Anfang zwanzig, ist der Wunsch, den eigenen Vater zu treffen, übergroß. Und da sie weiß, wo er ist, macht sie sich auf den Weg: Auf eine Donaukreuzfahrt mit lauter Rentnern. Denn das ist ihr Vater: Kapitän eines Donaukreuzfahrtschiffes. Was Jana in diesen acht Tagen auf dem Schiff und den Landgängen, mit den anderen Reisenden und vor allem mit ihrem Vater erlebt, erzählt Ilona Hartmann auf eine sehr eigene Weise: gefühlvoll und schnodderig, ernsthaft und ironisch, direkt und zart. Und immer spürt man, dass sie die Suche ihrer Hauptperson ernst nimmt und auch keinen der vielen anderen mehr oder weniger schrägen Personen verurteilt. Das ist überraschend angenehm und versöhnt einen mit der manchmal arg schlichten sprachlichen Form der Erzählung. Genau wie manche Erkenntnisse, die plötzlich aufblitzen: „Das Schlimmste am Jungsein ist die Verwirrung darüber, wie das eigene Leben zusammenhängt. Man weiß noch nicht – oder will noch nicht wissen -, dass es keinen roten Faden gibt. Life is chaos and then you die. Nur das menschliche Gehirn liebt die Ordnung, die entsteht, wenn wir Kausalketten bilden. Ich bin heute hier, weil ich gestern dort war. Dabei passieren die meisten Dinge im Leben so, wie ich auf diesen Autositz gelangt bin: Kurz nicht aufgepasst und dann irgendwie hineingeraten.“

Ilona Hartmann: Land in Sicht. Blumenbar Verlag 2020, 18.-. €

24.01.2021 - Flotter Einstieg in eine neue Reihe von Franziska Gehm -

und die nächsten beiden folgen bereits im März und April!

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Carlas beste Freundin Herta ist weggezogen! Wer soll sie jetzt aus peinlichen Situationen holen, wer für sie sprechen, sie verteidigen, sie retten? Keiner, das merkt Carla schnell. Und es kommt noch schlimmer: Sobald ihr etwas zu unangenehm wird, verschmilzt Carla plötzlich mit ihrer Umgebung und wird quasi unsichtbar! Und unangenehm sind schrecklich viele Situationen, seit der neue, laute, peinliche Junge, Jan-Ole, sich in der Schule neben sie gesetzt hat. Der wiederum findet Carlas Chamäleon-Anfälle echt krass. Und langsam merkt Carla, dass Jan-Ole zwar viel zu viele unlustige Witze erzählt, aber zu ihr steht, wenn es ernst wird. Und das wird es...

Franziska Gehm: Carla Chamäleon: Oh Schreck, ich bin weg! Rowohlt Verlag 2020, 12.99 €

31.01.2021 - Eines der ersten Pandemie-Bilderbücher, viele werden folgen.

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Drinnen Draußen erklärt die Pandemie nicht und das ist verständlich, denn es ist schwer, Kindern im Alter von 4 oder 5 Jahren die Gefahren einer Pandemie aufzuzeigen, zu leicht kann man hier nachhaltig verstören. Drinnen Draußen beschwört vielmehr das Wir, zeigt Bilder von den unterschiedlichsten Menschen in der ganzen Welt, die vom Draußen ins Drinnen zogen. Und es zeigt diejenigen, die draußen bleiben mussten, um zu arbeiten, zu helfen. Im Drinnen geht das Leben weiter und es ist tröstlich zu sehen, dass es wieder allen Menschen ähnlich ergeht, bestimmt entdecken die Kinder in den vielen Versuchen, mit der Situation umzugehen, sich und ihre Familie. Und spätestens in der Hoffnung, dass der Frühling kommen wird und wir ihn Drinnen und Draußen erleben dürfen, treffen sich wieder alle.

Ein schönes Buch, das man sich gemeinsam mit seinen Kindern anschauen sollte, wenn man sich traut. Denn die Kinder werden die Fragen stellen, die im Buch nicht gestellt und nicht beantwortet werden, und alle beginnen mit Warum.

LeUyen Pham: Drinnen Draußen. Thienemann Verlag 2021, 15.- €

07.02.2021 

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Prinzessin Bea besitzt viele Tiere – doch ihr Lieblingstier ist die goldene Schildkröte. Die ist selbst auch ganz verliebt in ihren golden angemalten Rückenpanzer, und darum sofort alarmiert, als die Katze ihr mitteilt, dass jemand etwas darauf geschrieben hat. Was um Himmels Willen steht da und wer hat es geschrieben? Da sie es selbst nicht lesen kann, geht sie zu den anderen Tieren und bitte vom Pudel über die Pferde und Schweine bis zur Ratte alle, ihr doch bitte vorzulesen, was auf ihrem Panzer steht. Doch ohne Erfolg – und da wird sie plötzlich vom Adler erwischt und befürchtet schon ihr nahes Ende, ohne dass sie jemals herausgefunden hätte, was auf ihrem Rücken geschrieben steht...

Sehr schöne Illustrationen mit vielen liebvollen Details, die weit mehr erzählen, als in der Geschichte versprachlicht wird. Das Prinzip ist ähnlich wie beim Maulwurf, der herausfinden wollte, wer ihm auf den Kopf gemacht hat, und überzeugt durch originelle und witzige Einfälle.

Paul Maar/Eva Muggenthaler: Die goldene Schildkröte. Oetinger Verlag 2020, 14.- €

14.02.2021 

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Man ist sofort in Karls Welt und erfährt die wichtigen Eckdaten über Karls Situation: Ein Leben auf der Straße, seit Jahren nun schon, nach dem Rauschmiss aus dem gemeinsamen Haus, aus dem gemeinsamen Leben mit Frau und Tochter, die es mit seinen Schuldgefühlen und seinem Saufen nicht mehr aushielten. Mehr nicht, erst einmal. Später, im Laufe der Geschichte, kommen die Rückblicke und die Erinnerungen an ein Leben vor der Katastrophe, sein Studium, die Begeisterung für den Lehrerberuf, für den Moment, in dem er ein aufblitzendes Verständnis in Schülerhirnen auslöst, seine Liebe zu Johanna und das kurze Glück, eine Tochter zu haben. Dann der Schnitt, der Unfall, der ihn für immer schuldig macht an dem Tod eines Kindes. Zwar nicht schuldig vor Gericht – es war menschenunmöglich, das Kind rechtzeitig zu sehen und zu reagieren -, aber für immer vor sich selbst. Das Weglaufen, das Trinken, schließlich das Leben auf der Straße, der Versuch, zu vergessen. 

 

Und dann folgen wir Karl durch den Tag, einer ist wie der andere, der beginnt mit der ersten Ration Alkohol, um zu sich zu kommen, die Nacht wegzuspülen, sich zu erden. Dann führt der Weg zur Suppenküche, wo man einen Teller Eintopf erhält und Bekannte trifft, einen Freund vielleicht, und viele Leidensgenossen. Weiter geht Karl zur Kleiderkammer, er braucht neue Schuhe und bekommt sie. Es ist Sommer und so kann Karl die Füße in der Isar erfrischen, danach gilt es schon, einen sicheren Schlafplatz für die Nacht zu finden. Ostermair nimmt sich viel Zeit für die Beschreibung dieses Lebens, denn auch seine Protagonisten haben viel zu viel Zeit. Karl trifft auf viele gescheiterte Existenzen in seinem Umfeld und alle bekommen ihren Raum. Jede einzelne Person hat ein Schicksal, das erzählt werden will, und jede einzelne Person hat ein Recht, Raum einzunehmen in dieser Geschichte. Ostermair gelingt es oft, mit wenigen Strichen deutlich zu machen, wer dieser oder jener Mensch war und wie er zu dem Leben gekommen ist, das er jetzt lebt. Das ist tragisch, die Geschichten sind oft schrecklich, traurig, trostlos. Dass der Roman dennoch nicht in dieser Stimmung verharrt, liegt nicht zuletzt an der Sprache, mit der Ostermair den Leser immer wieder aufrüttelt und erdet, und die so direkt wie ehrlich und manchmal erstaunlich komisch ist: Die Sprache der Straße, der Verzweiflung, aber auch des Zorns und nicht selten der alkoholbedingten Verwirrtheit. 

 

Zwei Personen treten hervor, beide verändern entscheidend Karls Leben, wobei sie sich jedoch diametral gegenüberstehen und Karl dazwischen zu zerreißen drohen: Lenz und Kurt. Wenn Ostermair den auktorialen Erzähler immer wieder in diese beiden Figuren schlüpfen lässt, erfährt der Leser von ihren Schicksalen und erkennt die Verbindung zu Karl. Da ist einmal Lenz, ein Mensch, den das Leben auf der Straße in Windes Eile zerstört, der Verfall ist gnadenlos schnell, Karl kümmert sich noch um ihn, doch Lenz ist dem Tode geweiht. Ein inoperabler Hirntumor hat ihn von einem Moment auf den anderen aus seinem Leben geworfen. Sein Freitod wendet Karls Schicksal, denn ihm überlässt Lenz seine Wohnung und sein geistiges Erbe: eine wilde Zettelwirtschaft. Einige dieser Texte sind als „Zettel aus dem Zettelwust von Lenz“ immer wieder zwischen die Kapitel gesetzt und geben der Geschichte eine weitere Dimension, eine politische, eine gesellschaftskritische Ebene, die Karls Geschichte über sein individuelles Schicksal hinaus Bedeutung gibt.

 

Und da ist Kurts Geschichte, die langsam in den Text hineingewoben wird und immer mehr Raum einnimmt, bis man versteht, wie Kurt und Karl miteinander verbunden sind. Kurt steht unablässig unter Strom, vibriert vor Wut und Hass. Er hat viel eingesteckt und noch mehr ausgeteilt im Leben, hat den falschen Job in einer brutalen Szene erwischt und dort wurde der letzte Rest Menschlichkeit und Empathie in ihm zerstört. Dann kommt Karl zur falschen Zeit am falschen Ort ins Spiel und Kurt schlägt zu, brutal, willkürlich, blind vor Hass und Verzweiflung. Das ist Jahre her und doch bildet es den Faden, der Kurt und Karl verbindet und der jetzt, am einzig möglichen Wendepunkt für Karl, die Schlinge bildet, mit der Kurt ihn ein zweites Mal zerstören will. Von dem Moment, an dem Karl und Kurt aufeinandertreffen, liest man die Geschichte atemlos, es graut einem vor dem, was nun unweigerlich folgen wird. Karl hat diesen Schlüssel zu der Wohnung von Lenz, und Kurt, aus der Haft entlassen, ohne Zukunft, ohne Arbeit, ohne Wohnung, ohne einen Funken Menschlichkeit, erkennt, was das bedeutet.

 

Ostermair lässt den Leser an dieser Stelle – ist es gnädig oder gemein? – alleine mit Karl und Kurt. Man erkennt, dass Karl nach so vielen Jahren ohne Halt und ohne festen Boden unter seinen Füßen es vielleicht nicht schaffen wird. Vielleicht ist die Wunde zu groß, der Selbsthass zu einnehmend, der Wunsch nach Vergessen zu übermächtig, als dass er sein Leben wieder in normale Bahnen zurückführen könnte. Vielleicht ist die Wohnung zu viel und macht gleichzeitig alles viel zu kompliziert, der Alkohol verspricht Erlösung im Vergessen. Oder vielleicht könnte Karl es schaffen, vielleicht aber ist Kurt die Bedrohung, die ihn kapitulieren lässt. Es bleibt offen, ebenso wie die anderen Schicksale, von denen viele dem Leser noch lange im Gedächtnis bleiben werden. Zwar gelingen dem Autor nicht alle Personenportraits gleichermaßen. Die Geschichte des Paares Aurika und Dumitru Jovanović zum Beispiel: Erst geht er nach Deutschland, um Geld zu machen, nach einem Unfall geht dann sie. Dieser kurze Erzählstrang will sich trotz seiner Verknüpfung am Ende nicht wirklich integrieren. Vielleicht hätte man den Text etwas reduzieren, einkochen lassen können. Doch das Buch ist Ostermairs Debüt, und seine Nähe zu der Geschichte – er hat selbst jahrelang in der Münchner Bahnhofsmission gearbeitet – ist zugleich auch eine Stärke.

 

So gelingt es Ostermair insgesamt, einen zugleich sachlich wirkenden und soghaft einnehmenden Text zu schreiben über ein Thema, das selten in der Literatur vorkommt. In zwei Kapiteln greift er dabei zu einem Mittel, das dem Leser direkt vor Augen führt, wie sich seine eigene Rolle dabei anfühlen würde: Erzählerisch geschickt erhalten zweimal wildfremde Personen ein Kapitel, in dem plötzlich aus ihrer Sicht ein Zusammentreffen mit Lenz bzw Karl geschildert wird. Das ist verblüffend und entlarvend und sehr gut gemacht. Und führt dem Leser vor Augen: Man weiß nichts vom anderen, schon gar nicht vom Fremden, und urteilt doch immer wieder viel zu schnell. Oder mit Kafkas Worten: „Wenn du vor mir stehst und mich ansiehst, was weißt du von den Schmerzen, die in mir sind, und was weiß ich von deinen. Und wenn ich mich vor dir niederwerfen würde und weinen und erzählen, was wüsstest du von mir mehr als von der Hölle, wenn dir jemand erzählt, sie ist heiß und fürchterlich. Schon darum sollten wir Menschen voreinander so ehrfürchtig, so nachdenklich, so liebend stehen wie vor dem Eingang zur Hölle.“

Markus Ostermair: Der Sandler. Osburg Verlag 2020, 20.- €

21.02.2021 - Wenn Literatur zaubert...

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Mattis lebt mit seiner Schwester zwischen See und Wald am Rand eines Dorfes. Die Schwester verdient etwas Geld mit dem Anfertigen von Strickjacken und sorgt für ihn. Hin und wieder schickt sie Mattis zum Arbeiten, dann geht er von Hof zu Hof und fragt vielleicht bei einem nach einer Aushilfsarbeit. Doch er kann sich nicht lange konzentrieren, kommt durcheinander, träumt, wird abgelenkt, verwickelt sich in seinen Gedanken und ängstigt sich. Nur auf dem See ist er ruhig und selbstsicher, rudern kann er, immer geraderaus, mit starken Zügen. Solange kein Gewitter aufkommt, denn davor fürchtet er sich.

Es passiert nicht viel in diesem außergewöhnlichen Roman, und doch steckt ein ganzes Leben drin und die ganze Welt. Selten habe ich es erlebt, so gänzlich in eine Person einzutauchen – und gleichzeitig alles von außen zu sehen, gleichzeitig die anderen zu sein. Selten hat mich ein Text so beeindruckt, irritiert und mitgenommen. Mattis spürt und erlebt alles: Angst und Geborgenheit, Stolz und Scham, Liebe und Wut, er spürt Sehnsucht, Demut und Andächtigkeit, er fühlt sich als Teil der Natur und ausgestoßen, einsam, anders. Und obwohl Mattis keine Worte dafür kennt, sich nicht ausdrücken kann, empfinde ich all das mit ihm, so intensiv wie selten bei einer Lektüre. Wenn Mattis von Stolz, Glück, Liebe, Freude, Mut und dem Gefühl der Veränderung erfüllt ist und nur sagt: „Anna und Inger. Mehr nicht. Das genügte." – wie schafft der Autor es, dass ich als Leserin genau das alles spüre? Und gleichzeitig wie die beiden Mädchen empfinde und denke? Und Mattis' Einsamkeit, die er nicht in Worten erfassen kann, ist auch meine, denn im Grunde weiß ich, dass ich auch mit noch so vielen Worten und komplizierten Sätzen nie verstehen kann, wie tief die Einsamkeit meines Gegenübers ist. Und doch ist Sprache der einzige Weg aus uns heraus und zu einem anderen hin. Mattis, der diesen Weg nicht kennt, bleibt in seiner einsamen Welt gefangen.

Tarjei Vesaas: Die Vögel. Guggolz Verlag 2020, 23.- €

28.02.2021 - Ein Buch, das den Vergleich nicht scheut, aber auch nicht hält - uns jedoch hinführt zu einem anderen, wie eine feine, gut gelegte Spur.

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Drei Wehrmachtssoldaten – Bauer, Emmerich und der Ich-Erzähler – umgehen die Juden-Erschießungen, indem sie sich auf den Weg machen, um eventuell geflüchtete Juden draußen zu finden. Es ist Winter irgendwo im polnischen Land, eiskalt, die drei frieren und hungern. Und sie finden tatsächlich einen jungen Mann, den sie mitnehmen. Die Kälte und der Hunger lassen sie auf dem Rückweg in einem verlassenen Haus unterkriechen. Dort machen sie Feuer und bereiten ein warmes Essen vor, eine langwierige und nicht einfache Sache. Ein Pole mit Hund kommt dazu, als wäre es sein Haus. Und der Jude sitzt in einer kalten Abstellkammer und sagt kein Wort. Werden die drei das Essen mit den beiden teilen?

Eine kurze Novelle, ein besonderes Ereignis, das lebensverändernd sein könnte. Doch weder die Spannung, die in einer solchen Situation stecken kann, noch die unfassbare Grausamkeit der Hintergrundgeschichte oder die Verzweiflung der drei Soldaten kommt in der Erzählung richtig zum Tragen. Keine Frage: Der Autor kann schreiben, die Geschichte ist gut konstruiert, der Bogen steht, die Personen sind gekonnt ausgesucht. Doch es bleibt eine Fingerübung, eine theoretisch gelungene Erzählung, ohne dass der Leser tief berührt zurückbleibt. Vielleicht liegt es daran, dass der Name Emmerich zu sehr an den Soldaten Kemmerich aus Erich Maria Remarques „Im Westen nichts Neues" erinnert, die Beschreibung seines Todes gleich zu Beginn des Romans lässt einen nie wieder los. Den Vergleich mit diesem herausragenden Roman scheint Mingarelli nicht zu scheuen, doch bleibt das Wintermahl dagegen blass.

Hubert Mingarelli: Ein Wintermahl. Ars vivendi Verlag 2020, 18.- €

07.03.2021 - Eine Geschichte, die Spaß und Mut macht:

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Schon seit einiger Zeit ist Ava wütend und frustriert über den sich rasant verschlechternden Zustand der Umwelt, auch die Teilnahme an den Freitagsdemonstrationen hilft nicht richtig. Die Nachricht, dass fast ganz Hamburg bei einer sich abzeichnenden Erwärmung von 2 Grad in einer Wasserflut untergehen würde, macht sie vollends fertig. Zu ihrer Wut kommt Angst und ein lähmendes Ohnmachtsgefühl. Sie spürt, dass sie aktiver werden muss, wenn sie nicht verrückt werden will. Leider kann ihr bester Freund Leon das nicht nachvollziehen. Nicht nur, dass er sie nicht unterstützt, er macht sich lustig und kann auch ziemlich gemein werden. Das tut Ava zwar weh, da sie eigentlich seit Kurzem mehr für Leon empfindet als eine Kindergartenfreundschaft. Doch als eine Aktivist*innengruppe ein Protestcamp auf einem Bauernhof organisiert, der im Falle einer Überflutung aufgrund seiner erhöhten Lage zur Insel würde, und der auch noch der Familie ihres Klassenkameraden Kruso gehört, weiß Ava, dass sie gegen alle Widerstände von Eltern, Schule oder Leon mitmachen muss. Das Camp wird eine lebensverändernde Erfahrung für Ava – und nicht nur für sie...

Okay, es gibt Stereotypen und Klischees, die nicht umgangen werden, und ja, der Zeigefinger ist manchmal nicht zu übersehen. Aber die Geschichte ist flott und spannend erzählt und vor allem ist sie  – was viel mehr zählt – keine Schwarz-Weiß-Malerei. Es geht zwar munter und optimistisch voran mit der Protestaktion und die Aktivist*innen sind eindeutig die Sympathieträger; aber das bedeutet nicht, dass die anderen allesamt die „Bösen" sind. Empathisch und mit Sinn für die Komplexität menschlicher Situationen und Entscheidungen gesteht Mierswa ihren Charakteren Grauschattierungen, Widersprüche, Einsichten und Veränderung zu. Dadurch erschafft sie eine Geschichte, die realitätsnah ist und dennoch Mut und Hoffnung macht. Und die werden wirklich gebraucht.

Annette Mierswa: Wir sind die Flut. Loewe Verlag 2020, 6.95 €

14.03.2021 - Wenn wir das Problem sind, dann können wir auch die Lösung sein!

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Viel hat Oppermann in diesen spannenden Roman gepackt – doch es sind alles Fragen, Probleme und Ereignisse, die unsere Gesellschaft seit einiger Zeit beschäftigen, nichts wird vereinfacht oder beschönigt, und so bleibt die Geschichte schlüssig und wirkt nicht überladen. Schon die Hauptperson Evie ist zerrissen: Einerseits weiß sie, wie es um unsere Umwelt und Zukunft bestellt ist, weiß, dass sie sich engagieren müsste und hat das auch eine Zeitlang in einer Bewegung aktiv getan. Dann jedoch musste sie sich eingestehen, dass sie es psychisch einfach nicht mehr schafft. Das Ausmaß an Problemen hat sie überwältigt und Panikanfälle ausgelöst. Nur ein konsequentes Verdrängen – zum Beispiel indem sie Zeit mit ihrem fröhlichen Freund Ric verbringt – hat ihre Ängste etwas zur Ruhe kommen lassen. Doch dann beginnt das mysteriöse Fieber, an dem Menschen innerhalb von 24 Stunden sterben. Und schnell stellt sich heraus, dass es sich nicht um einen Virus handelt, gegen den man etwas unternehmen könnte. Völlig unerklärlich erkranken Menschen daran, die vor allem eines gemeinsam haben: Sie handeln und leben in hohem Maße klimaschädlich. 

In den Figuren der Familie, der Freund*innen und Mitschüler*innen Evies zeigt Oppermann, wie unterschiedlich die Menschen auf eine solche Katastrophe reagieren: mit Verdrängung, Angst, Glaube, Abschottung, Wut, Flucht, Verzweiflung, Hoffnung. Und in eindrücklichen dystopischen Szenarien stellt sie dar, wie Angst und Verzweiflung die Menschlichkeit zerstören können, so dass Evie an einer Stelle gesteht: „Ich bin mir nicht mehr sicher, wer den größeren Schaden verursacht, Fieber oder die Menschen.“ 

Zwei Zeitebenen werden aufeinander zugeführt, wodurch die Spannung stets auf hohem Niveau bleibt. Gegen Ende erlaubt sich Oppermann ein Kapitel, das beim Leser/der Leserin zu einem kurzen Schreckmoment führt (das meint sie jetzt nicht ernst?!) – dann aber souverän zurück in das erstaunlich optimistische Finale führt. Bei dem dann auch einige Fragen offen bleiben. Aber Lösungen sind schließlich nicht unbedingt das, was man von einem guten Roman erwartet. Es sind vielmehr die Fragen, die er aufwirft, die man sich bei und nach der Lektüre stellt und über die man im besten Fall noch lange nachdenkt.

Swantje Oppermann: Fieber. Alles. Ausser. Kontrolle. Beltz & Gelberg Verlag 2021, 16.95 €

21.03.2021 - Maskenpflicht leicht gemacht

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Das ABC als Lektion in Gewöhnung an die Hygienemaßnahme Maskenpflicht, die nach diesem Buch wie ein großer Spaß wirkt. So viel Lerneffekt, so aktuell! Und das beste: so wunderschön und gekonnt gezeichnet wie immer von Rotraut Susanne Berner. Alle Tiere haben Pfiff und Witz, doch natürlich habe ich meine Favoriten: Das elegante Reh: „Als Maske trägt das scheue Reh gern ein Bouquet aus zartem Klee." Und die modische Nilpferdfrau...Toll!

Rotraut Susanne Berner: Einhorn, Bär und Nachtigall tanzen auf dem Maskenball. Kunstmann Verlag 2021, 12.- €

28.03.2021 - Gleich drei Bücher für die nahenden Ostertage:

Mit dieser Lektüre kommt bestimmt keine Langeweile auf!

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Was für eine schöne Idee des Gerstenberg-Verlages, die Geschichten von Herrn Röslein wieder aufzulegen – zumal Silke Lambeck spätestens nach ihren Otto-Abenteuern für flotte und pfiffige Schreibkunst bekannt ist. Nun also (wieder) die Geschichten von Herrn Röslein und dem 9-jährigen Moritz. Der lebt mit seinen Eltern und dem kleinen Bruder Tim im selben Haus wie Herr Röslein, was sich als großer Glücksfall herausstellt. So richtig rund läuft es bei Moritz nämlich gerade nicht: In der Schule ärgern ihn Stefan Rabentraut und sein Freund, zuhause ist die Mutter in ihrem neuen Job gestresst und überfordert. Da kommt Herr Röslein mit seinen verrückten Ideen gerade recht. Im Park entdecken sie einen echten Parktiger, Moritz lernt Alfons, den Freund von Herrn Röslein, kennen, der einmal mit einem Elefanten zusammengelebt hat, und sie besuchen Pippa, die ein ganz besonderes Eis verkauft. Das beste Abenteuer jedoch erlebt Moritz, als Herr Röslein auf den neuen Chef seiner Mutter trifft...

Wenn das keine gelungene Hommage an Erich Kästners „Der 35. Mai" ist! Vom Onkel Ringelhuth mit den unkonventionellen Ideen und dem Pferd auf Rollschuhen bis zum Ernten von Regenschirmen im Schlaraffenland: Die phantastischen Geschichten, die Moritz und Herr Röslein erleben, erinnern immer wieder an Konrads Reise in die Südsee. Schön, dass Silke Lambeck uns nicht nur mit ihrer eigenen Geschichte bestens unterhält, sondern auch auf die Spur dieses wunderbaren alten Klassikers bringt.

Silke Lambeck: Herr Röslein. Gerstenberg Verlag 2020, 13.- €

 

Im zweiten Band der Röslein-Abenteuer wird es sofort spannend. Herr Röslein hat Moritz bei seiner Abreise zu einem neuen Auftrag sein Kleinwildfernrohr dagelassen und durch das sieht Charlie, was in der Grauen Vorstadt passiert: Die Eisverkäuferin Pippa wird entführt! Jetzt ist Moritz wirklich in einer schwierigen Situation: Herr Röslein ist unerreichbar, seine Eltern und Freunde kann Moritz nicht einweihen – abgesehen davon würde ihm ja kein Mensch glauben – und er weiß nicht einmal, wo die Graue Vorstadt liegt. Zum Glück fällt ihm Herr Rösleins Freund Alfons wieder ein. Ob der ihm helfen kann?

Silke Lambeck versteht es nicht nur, Spannung aufzubauen und flott zu erzählen, sie trifft auch den richtigen Ton, wenn es um brenzlige Situationen und schwere Entscheidungen geht, die sie ihrem Helden zumutet.

Silke Lambeck: Herr Röslein kommt zurück. Gestenberg Verlag 2021, 13.- €

 

 

Schon die Erklärung Konrads, warum er ausgerechnet einen Aufsatz über die Südsee schreiben muss, ist großartig: „Alle, die gut rechnen können, haben die Südsee auf. Weil wir keine Phantasie hätten! Die anderen sollen den Bau eines vierstöckigen Hauses beschreiben." So beklagt er sich bei seinem Onkel Ringelhuth. Doch dann treffen sie ja bekanntlich das Ex-Zirkuspferd Negro Kaballo, welches ihnen den Weg durch den Schrank im Korridor in die Südsee zeigt und sie auf ihrer verrückten Reise begleitet. Die führt sie durch das Schlaraffenland (in dessen Versuchsstation die virtuellen Welten vorweggenommen werden) über die Burg „Zur großen Vergangenheit", die verkehrte Welt und die Zukunftsstadt Elektropolis (mit selbstfahrenden Autos und Menschen, die auf der Straße telefonieren können – man lese und staune) direkt auf den Äquator, auf dem sie weiter in die Südsee rauschen. Phantastische Abenteuer und höchst ungewöhnliche Begegnungen erleben die drei, bis sie rechtzeitig zum Abendessen zurück sind und Konrad noch seinen Aufsatz schreiben kann.

Das Ganze ist in einer Sprache geschrieben, die ein reiner Genuss ist: wunderbare, ungewohnte Ausdrücke und Formulierungen, verschachtelte Sätze und Anspielungen, Indirekte Rede und Konjunktiv – wo findet man das heute noch? Das heißt aber: unbedingt vorlesen! Viel Vergnügen!

Erich Kästner: Der 35. Mai. Atrium Verlag 2018, 14.- € (Erste Auflage 1931)

04.04.2021 - Kann Freundschaft halten, wenn Fronten sich verhärten?

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Es gibt wenige Auserwählte, denen bis zu ihrem 18. Lebensjahr eine Begabung zufällt, und nicht alle Begabungen sind gleich spektakulär. Natürlich gibt es die „Superhelden", die fliegen oder unter Wasser sehen können, aber es gibt auch diejenigen, die nur aus ihrem Mittelfinger einen Tauchsieder machen können oder perfekte Frühstückseier kochen. Bjarne hat den großen Traum vom Fliegen. Und da die Chancen, eine Begabung zu entwickeln, kurz vor dem 14. Geburtstag am höchsten sind, tut Bjarne alles, um genau diese Begabung aus sich herauszuholen. Beim Sprung von einer Brücke mit seinem besten Freund Luca bricht er sich den Fuß. Luca rettet ihn aus dem kalten Fluss – und entdeckt dabei, dass er es ist, der eine Begabung hat: äh - sorry, die verrate ich hier nicht:). Auch wenn Bjarne es seinem Freund gönnt: Die beiden leben sich in kürzester Zeit auseinander. Bjarne versucht weiterhin alles, um zu fliegen, bis ihn seine Eltern und ein Psychiater in den Sommerferien in ein Camp der Unbegabten geben. Und Luca ist in die Glamour-Welt der Begabten eingetaucht, auf ein Begabten-Internat gegangen und umgibt sich mit neuen Begabten-Freunden. Doch die Welten von Begabten und Unbegabten sind nicht nur sehr unterschiedlich, die Fronten werden auch immer härter, es gibt mehr und mehr Hasskommentare, und schließlich wird ein Mädchen aus dem Begabten-Internat entführt. Und dann ist plötzlich auch Luca verschwunden...

Dass Boris Koch schreiben kann, ist aus seinen sehr unterschiedlichen, aber allesamt flotten Romanen für Kinder und Jugendliche bekannt. Hier legt er eine richtig spannende Geschichte für Jugendliche vor, die gerade mal die richtige (kleine) Menge Magie hat, eine (große) Portion Nervenkitzel bietet und ordentlich viel, aber nie zu dick aufgetragene Lebensklugheit bereithält. 

Boris Koch: Das Camp der Unbegabten. Thienemann Verlag 2021, 16.- €

Eine unbedingte Leseempfehlung für alle, die mal wieder richtig Spaß haben möchten!

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Als seine Oma stirbt, hat Freddie das beunruhigende Gefühl, ihm würden nicht genug Familienmitglieder übrigbleiben. Seine Mutter starb bei seiner Geburt und der damalige Freund seiner Mutter ist nicht sein leiblicher Vater. Was nie ein Problem war, er mag ihn sehr – aber was, wenn auch ihm etwas zustößt? Freddie beschließt, seinen leiblichen Vater zu suchen, und findet heraus, dass er anscheinend in Cardiff, Wales, lebt. Es ist der Beginn der Sommerferien und seine beiden Freunde Ben und Charlie haben gute Gründe (eine anstrengende Stiefmutter und ein drohendes Veganer-Camp), sich Freddie sofort anzuschließen. Es beginnt eine wilde Reise der drei großartig charakterisierten und sich einmalig ergänzenden Jungs voller unglaublicher Begebenheiten, die in einem so herrlich trockenen Ton erzählt ist, dass man sich durchweg hervorragend amüsiert. Die Botschaft am Ende gibt es als Bonus dazu. 

Jenny Pearson: Die unglaubliche Wunderreise des Freddie Yates. Arena Verlag 2021, 13.- €

18.04.2021 - Witzig, originell, unerwartet und mit einer Botschaft, die man selten in einem Bilderbuch findet!

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Sobald man in einem Bilderbuch liest, dass sich eine Maus von den anderen fernhält und lieber alleine ist, meint man zu wissen, was kommt: Irgendwann kommt die kleine Maus in eine Situation, in der sie die anderen braucht, und dann bereut sie es, sich isoliert zu haben. Dann – so vermutet man weiter - helfen die anderen trotzdem und die Maus wird bekehrt. Moral: Zusammen ist man stark, drum bleib immer brav in der Gemeinschaft. Aber nix davon in dieser herrlichen Geschichte! Zwar gerät die Maus tatsächlich in Gefahr, aber sie hat Glück und kann die Situation mit dem Fuchs selbst lösen. Zwar merken beide, Fuchs und Maus, dass es nett ist, miteinander zu plaudern und gemeinsam zu essen, aber ein Besuch dann und wann reicht ihnen völlig, sie sind immer noch gerne allein. 

Das findet man selten: In dieser Geschichte werden die üblichen Erwartungen durchgeschüttelt und neu gemischt. Originell, witzig, überraschend und voller unerwarteter Wendungen. Toll!

Joe Todd-Stanton: Eine Maus namens Julian. Beltz & Gelberg Verlag 2021, 12.95 €

25.04.2021 - Wo die Kindersicht so empathisch mitgefühlt wird und Probleme klar erkannt und offen benannt werden, da darf es am Ende auch ein bisschen utopisch werden. Gerade im Kinderbuch.

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„Das ist die Ewigkeit. Es gibt kein Vorher von irgendwas, kein Nachher, in das man Sachen wie die Hausaufgaben aufschieben könnte. Und vor allem gibt es kein Jetzt. Und zum Atmen braucht man das Jetzt. Wenn ihr einatmet, ist es Jetzt. Wenn ihr ausatmet, ist es wieder Jetzt. Vorher ist es zu früh und nachher zu spät. Seht ihr? Diese Ewigkeit schnürt uns die Luft ab."

Hin und wieder hat Nikosch solche philosophischen Gedanken und man merkt: Da hat sich die Autorin richtig gut eingefühlt in die Erlebniswelt der Kinder. Vielleicht haben sich diese ersten zähen, konturlosen Wochen und Monate der Pandemie wirklich wie die Ewigkeit angefühlt. Und tun es noch. 

Zum Glück hat Marmon auch eine spannende Story auf Lager und schickt Nikosch und seine Schwester Nini gemeinsam mit den anderen, in der Ewigkeit festhängenden Kindern des Kaninchenbaus in einen regelrechten Krimi, in dem es um vertauschte Identitäten und traurige Auswirkungen der Corona-Maßnahmen geht. Aber auch um Freundschaft, Zusammenhalt und kreative Ideen. Und nicht zuletzt kommen dabei auch mal diejenigen ins Blickfeld, die besonders zu leiden haben und oft übersehen werden. 

Uticha Marmon: Das stumme Haus. Sauerländer beim Fischer Verlag 2021, 14.- €

02.05.2021 - Charmante generationsübergreifende Sommer-Krimigeschichte, in der vieles lässig nebenbei passiert.

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Klug, gewieft und mutig – das ist Luis laut Karl, dem selbst äußerst fitten 104-jährigen Bewohner des Altenheims „Haus Erlengrund", mit dem Luis sich sofort anfreundet. Muss er doch seine ersten Ferientage (die zu Wochen werden) bei der Freundin seiner Mutter verbringen, die in eben diesem Heim arbeitet. Luis' Mutter nämlich muss notfallmäßig als Kapitänin zu einem Einsatz. Doch das Altenheim ist alles andere als langweilig, und das nicht nur wegen Karl. Sobald sich Luis erst einmal an die Gedächtnislücken, Schrullen und Eigenheiten der Bewohner*innen gewöhnt hat, merkt er schnell, wie witzig und wie normal diese Alten sind – im Grunde läuft es da nicht groß anders ab als in der Schule...Nur, dass hier plötzlich Wertgegenstände der Bewohner*innen verschwinden. Gleichzeitig bemerkt Luis ungewöhnliche Rumpeleien auf dem Dachboden über seinem Zimmer. Karl ist sofort dabei, als Luis ihm von seinen Beobachtungen erzählt, und so beginnen die beiden ihre Detektivarbeit.

Vieles in der Geschichte wird unaufdringlich und beiläufig abgehandelt, was für eine angenehme Atmosphäre sorgt. So darf Luis seinen Vater einfach stehen lassen, als der ihn zu seiner neuen Familie mitnehmen will. Und Luis Mutter ist eine Heldin, deren Geschichte aber nur auf einem Nebenschauplatz stattfindet. Luis selbst ist dagegen erst einmal ganz unheldenhaft ängstlich, während Karl eigentlich ziemlich einsam, dafür aber oft guter Dinge ist. Locker benutzt Karl Redewendungen, Begriffe und Vorstellungen aus den letzten 30, 40, 50 Jahren, die Luis meistens nicht kennt und versteht, was oft einen komischen Effekt hat. Die eigentliche Krimihandlung steht am Ende gar nicht so sehr im Vordergrund, in Erinnerung bleiben der Leserin vielmehr die sympathischen Alten und die Freundschaft zwischen ihnen und Luis.

Beate Dölling: Ab in die Rakete. Tulipan Verlag 2021, 13.- €

09.05.2021 - Eine Geschichte über den ersten Weltkrieg, die so aktuell wie zeitlos und so federleicht wie traurig ist – das ist große Kunst.

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Sie wollen glauben, was die Tante aus der Hauptstadt Brüssel sagt: Es wird keinen Krieg geben. Und auch die Mutter wiederholt immer wieder, alles wird gut, am Ende wird alles gut. Doch Alice und ihre Geschwister Oskar, Rosa, Jules und Clara merken bald, dass der Krieg doch kommt. Erst in Form von langen Flüchtlingsströmen, die durch das Städtchen ziehen, hungrige, müde, traurige Menschen. Noch sagt der Vater: Wir bleiben, hier, in dieser Ecke Belgiens, ist es sicher. Doch auch diese Sicherheit wird langsam brüchig, der Krieg kommt immer näher, es wird immer gefährlicher...

Eine Geschichte über den ersten Weltkrieg aus der Sicht eines vielleicht acht bis zehnjährigen Mädchens zu erzählen ist eine Herausforderung, die Vereecken wunderbar meistert. Die Mischung aus Unwissenheit, Angst und dem Gefühl für die Bedrohung mit der Leichtigkeit eines Sommernachmittags auf einer Dorfkirmes, der Unbeschwertheit alberner Momente und der Freude am Leben gelingt der Autorin großartig. 

Kathleen Vereecken: Alles wird gut, immer. Gerstenberg Verlag 2021, 14.- €

16.05.2021 - Ein leises Buch mit großen Themen:
Freiheit, Selbstbestimmung, Gerechtigkeit

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„Um in dieser Welt überleben zu können, musst du Realist sein. Wenn du nicht die Augen aufhältst und es kommen siehst, macht es dich platt." Gemeint ist das Leben, und die überzeugte Realistin - immer auf das Schlimmste gefasst, denn so ist das echte Leben -, die das sagt, ist Jolene, ein etwa 11 jähriges Mädchen. Ware, selber elfeinhalb Jahre alt, lernt sie kennen auf einem alten Abrissgrundstück mit Kirchenruine, auf das er geflohen ist, um nicht an dem Sommerlagerprogramm teilnehmen zu müssen. Dort sind ihm viel zu viele laute Kinder, und so lässt er sich zwar jeden Tag von seiner Mutter hinbringen, geht aber nie hinein. Jolene erscheint auch täglich auf dem Grundstück und arbeitet unglaublich ausdauernd an einer Papayaplantage. Ware, der gerne für sich alleine ist, nachdenkt, tagträumt, beginnt ebenfalls, auf und an der Ruine zu werkeln und eine Art Burg zu bauen. Irgendwann taucht Ashley auf, eine 14Jährige mit einer Leidenschaft für Vögel. Die drei erschaffen sich ein kleines Wunder und kommen sich dabei ganz langsam und vorsichtig näher. Besonders für Ware, aus dessen Sicht die Geschichte geschrieben ist, wird dies ein besonderer Sommer, in dem er zu sich selbst findet.

Der Stil von Pennypacker ist zurückhaltend, vorsichtig und liebevoll. Vieles wird gar nicht auserzählt, Andeutungen, indirekte Beschreibungen reichen. Andererseits bringen Jolene und Ware viele ihrer Erkenntnisse in wenigen Worten auf den Punkt. Diese Mischung aus Zurückhaltung und Genauigkeit überzeugt ebenso wie die Geschichte von Wares Weg zu sich selbst, zu einem Menschen, der für ein Ziel lebt: „Und mein Ziel ist der Kampf gegen Ungerechtigkeit."

Sara Pennypacker: Hier im echten Leben. Sauerländer bei Fischer Verlag 2021, 17.- €

23.05.2021 - Läuft bei Alf Bukowski!

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Der Freibadsommer ist vorbei, es wird Herbst, Winter, Weihnachten und wieder Frühling. Katinka, Alfs kleine Schwester, verfolgt mit gnadenloser Konsequenz ihre Karriere als Model in Paris, bekommt eine tolle eigene Französisch-Nachhilfelehrerin, und bringt sogar den Onkel und seine neue Freundin dazu, sie auf ihr Wochenende in Paris mitzunehmen. Das ist Alf schon fast unheimlich. Robbie ist jetzt in der zweiten Klasse und wünscht sich manchmal, nicht in die Schule gehen zu müssen, um auch mal in Ruhe seine Ruhe haben zu können. Aus seinem kleinen Bruder wird Alf nicht immer schlau. Es ist ihm ein Rätsel, was Robbie so sieht und denkt, wenn er in den Himmel oder an die Wand schaut und die Welt um sich herum vergisst. Hin und wieder verschwindet Robbie auch, doch er kann sicher sein, dass seine Familie ihn findet. Und Alf? Auch er weiß, dass er sich auf seine Familie verlassen kann, aber auch er braucht seine Rückzugsorte und stillen Momente. Zum Glück hat er das Butterfly, wo er boxen lernt und sich genau richtig fühlt. Und dann ist da noch Johanna...

Gmehling zeigt: Man braucht keine spektakulären Abenteuer mit überzogenen Bösewichten und Helden – wenn man gut erzählen kann, reichen auch die Helden des Alltags und ihr kleines Leben für eine große Geschichte. Und dass hier mal alles stimmt innerhalb der Familie und die Protagonist*innen auf ihre Art mit der Welt und ihrem Leben klarkommen, ist erstaunlich wohltuend. 

Warum ist das nicht langweilig, warum ist das nicht kitschig? Weil Gmehling von einem alltäglichen Leben einer einfachen Familie berichtet, ohne banal zu werden, ohne die Tiefe und Komplexität seiner Figuren und ihre Gedanken zu verflachen, weil er liebevoll erzählt, ohne die Abgründe auszublenden, grundoptimistisch, ohne die Probleme zu ignorieren. Und weil er einfach gut erzählen kann. 

Will Gmehling: Nächste Runde. Peter Hammer Verlag 2020, 14.- €

30.05.2021 - Herrlich abgedrehter belgischer Comic zu einem wichtigen Thema!

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Yasmina lebt mit ihrem Vater, einem Angestellten in einer Frittenbude, und sorgt für ihn und sich selbst, denn sie kocht leidenschaftlich gerne. Dafür holt sie sich auf dem Schulweg Wildkräuter und bei zwei Freunden mit kleinen Gärten vor der Stadt, Marco und Cyril, auch Gemüse und Obst. Alles geschenkt, denn Yasmina und ihr Vater haben wenig Geld. Dass auf dem Dach ihres Hochhauses eine geheimnisvolle Frau alleine lebt und einen riesigen Dachgarten voller Obst und Gemüse hat, nutzt Yasmina nur heimlich und im Notfall. Der folgt dann sehr plötzlich: Eines Morgens sind die Gärten von Marco und Cyril plattgemacht von riesigen Baggern, alles ist eingezäunt und Yasmina muss entdecken, dass eine große Firma dort ihre genmanipulierten Kartoffeln erntet und weiterverarbeitet. Doch es wird noch erstaunlicher: Kurz nachdem die Kartoffelprodukte auf dem Markt sind, benehmen sich die Leute sehr seltsam, wie süchtig nach den Produkten - und komischerweise wie Hunde. Als Yasminas Vater auch von der unheimlichen Krankheit befallen wird, reicht es ihr. Bei einem ihrer nächtlichen Besuche in dem Dachgarten entdeckt sie in einem Schuppen etwas, das eine Verbindung der geheimnisvollen Nachbarin mit der Kartoffelfirma nahelegt, und Yasmina beginnt zu ermitteln...

Sehr flotte, spannende, abgedrehte Geschichte mit höchst sympathischen und komischen Helden, wild und lebendig gezeichnet, und dazu eine Liebeserklärung an das Kochen und Essen, wenn Yasmina dem Fabrikbesitzer ins Gesicht schleudert: „So ein dummer Plan! Wir essen doch nicht nur, weil wir müssen!"

Wauter Mannaert: Yasmina und die Kartoffelkrise. Reprodukt Verlag 2021, 20.-€

06.06.2021 - Lasst uns die Zukunft gestalten!
Und der erste Schritt dazu ist: Wissen, was jetzt ist!

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Wir müssen die Probleme, die damit zusammenhängen, dass wir so viele Menschen sind und die Grenzen der Natur erreicht haben, versuchen zu lösen. – „So so, na dann lösen Sie mal!" So mischt sich der Herr ein, der immer wieder am unteren Bildrand auftaucht und kommentiert, einwendet, nachfragt, kritisiert. Manchmal wird er von anderen abgelöst, aber immer sind die Fragen scharf und nicht selten pampig. Unterdessen zeigt uns die Illustratorin mit vielen Bildern, in welchen Bereichen unsere Probleme liegen und deutet Lösungsideen an. Es geht um unsere Ernährung – was wir essen, wie viel, wie es hergestellt wird, was für Folgen das für die Umwelt hat; dann beschreibt sie unser Konsumverhalten – was wir kaufen, brauchen oder nicht brauchen, und wie das mit unseren Umweltproblemen zusammenhängt; es folgt das Thema Mobilität – wie reisen wir, wie bewegen wir uns täglich wohin fort, was könnten wir daran ändern; und schließlich wirft Raidt noch einen Blick auf Strom und Wärme – wo kommen sie her, was gibt es für Alternativen. Das Ganze ist toll gemacht, einfach, überzeugend, mit vielen optimistischen Ideen, ohne die berechtigten Fragen und Zweifel zu vernachlässigen. Dass viele Fragen dabei offen bleiben, liegt in dem Wesen der Sache und bestätigt nur Abraham Lincolns  Aussage: Die bester Art, die Zukunft vorauszusagen, ist, sie selbst zu gestalten!

Gerda Raidt: Das ist auch meine Welt. Beltz & Gelberg Verlag 2021, 16.95 €

13.06.2021 - Jetzt kann man mit ein bisschen Abstand den Corona-Virus noch einmal richtig verstehen und einordnen:

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Bevor man sich die über 80 Folgen des Christian-Drosten-Podcasts zum Corona-Update anhört, ist es vielleicht hilfreich, mit diesem kleinen feinen Buch vom belgischen Kollegen Marc Van Ranst ein wenig Grundwissen anzulegen. Denn hier erfährt man, dass Bakterien, Viren, Parasiten und Pilze allesamt Mikroben sind, welche Unmengen es wirklich fast überall davon gibt, wie sie aussehen und was sie anrichten (Gutes wie Schlechtes). Dann steigen wir ein in die fiesen Krankheiten, die von Bakterien oder Viren hervorgerufen werden: von den verschiedenen Grippe-Typen bis hin zu den echten Killern: Pest, Malaria, Ebola. Und schließlich folgt ein kurzer Abschnitt über Corona, der jedoch schon ein wenig von der Wirklichkeit überholt wurde. Die Kapitel sind kurz und übersichtlich, folgen einer nachvollziehbaren Logik, die Sprache ist verständlich und es fehlt nicht an Humor. Ein Vergleich hat mir besonders gefallen: Der Lockdown in Corona-Zeiten ist die Stallpflicht für Menschen, wie sie für Hühner während der Vogelgrippe galt. Kurze Wissenstests am Ende der Sinneinheiten und aufregende Experimente am Schluss des Buches runden die Sache ab. 

Marc van Ranst u.a.: Monster-Mikroben. Hanser Verlag 2021, 15.- €

20.06.2021 - Den Roman zeichnet aus, dass er die aktuellen Diskurse zur Identitätsdebatte absolut souverän verhandelt und einer oft rigide und verbissenen Debatte Humor und Menschlichkeit anbiete,
gerade weil sie der Autorin so wichtig erscheint. (Ute Bakus)
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Niveditas bewusste Selbstfindung als Tochter einer Deutschen mit polnischem Hintergrund und eines Inders beginnt erst so richtig mit der Entdeckung der Professorin Saraswati. Deren Vorlesungsreihe Postkoloniale Theorien an der Düsseldorfer Universität sind schnell Kult, und nicht nur Nivedita fühlt sich endlich verstanden und gesehen. Mit jeder Pore ihres Körpers nimmt sie die für sie so neuen, lebenswichtigen, lebensverändernden Aussagen Saraswatis in sich auf. Doch dann ist Saraswati nicht Saraswati, keine PoC, sondern eine normale weiße Deutsche, die allen etwas vorgemacht hat und damit einen Shitstorm aller erster Güte auslöst. Doch tut sie das wirklich? Nivedita ist komplett verwirrt, zerrissen, enttäuscht, verletzt, unsicher, wütend, verängstigt. In diesem Zustand geht sie zu ihrer Professorin und verlangt Antworten, vor allem auf die Frage: warum? Und wundert sich – denn Saraswati ist immer noch souverän, ja überheblich, selbstherrlich. Sie schreit nicht, weint nicht, flippt nicht aus, schämt sich auch nicht. Sie hat – wie immer – die Situation im Griff. Wenn überhaupt, so ist sie überrascht. Und schießt alle Fragen, die Nivedita stellt, zurück: Wer bist du? – Identität ist etwas, das man sich auswählt, für das man sich entscheidet. Sei ehrlich, sag mir die Wahrheit! - Definiere Wahrheit! Sei eindeutig, antworte mir! -  Eindeutigkeit ist eine primäre Eigenschaft von Ideologie. Du hast uns verraten und hintergangen! – Es geht euch darum, Definitionsmacht über sich selbst zu bekommen. Wie könnt ihr mir das dann absprechen?

Tagelang bleibt Nivedita bei Saraswati – froh, ihrer WG, dem verletzenden Freund und dem eigenen Shitstorm, der sie als Saraswati-Anhängerin erreicht, zu entkommen –, inzwischen ist auch deren Freundin Toni aus Berlin angereist, und immer wieder nehmen sie die Diskussionen um Saraswatis Passing wieder auf, immer wieder werden die Fragen nach Identität, Race, Weiß-Sein (weiß ist kein Zustand, ruft Saraswati, race muss hergestellt werden! Doing race!) diskutiert. Und dann steht nach ein paar Tagen plötzlich Priti vor der Tür, Niveditas Cousine, die kein unkompliziertes Verhältnis zu Saraswati hat. Und kurz darauf stehen hunderte von Saraswatis Student*innen vor Saraswatis Haus und fordern ihren Rücktritt als Professorin.  Dabei ist auch: Saraswatis Bruder...

Immer wieder kommt Nivedita an einen Punkt, an dem sie denkt: Jetzt muss Saraswati aufgeben, sich entschuldigen, alles erklären. Und immer wieder verblüfft und zerrüttet Saraswati  sie und überrascht auch Sanyal uns mit einem neuen Twist, einer weiteren Enthüllung oder erstaunlichen Behauptung, einer Person, die wie ein Kaninchen aus dem Hut hervorgezaubert wird und neue Funken in die Glut der endlosen Diskussionen in Saraswatis Dachwohnung bringt. Das ist nie langweilig, denn die Gespräche sind ebenso intelligent und interessant wie amüsant und witzig, wozu die lässig-ironische Göttin Kali, mit der sich Nivedita in Gedanken und Träumen unterhält, nicht wenig beiträgt. Sehr kunstvoll werden in die auf minimalen Ort-und-Zeit-Rahmen reduzierte Handlung Szenen aus Niveditas Vergangenheit eingeflochten, die immer weitere Interpretations- und Verständnistüren öffnen. Ein großartiger, vielstimmiger Thesenroman, der auch noch hervorragend unterhält. 

Mithu Sanyal: Identitti. Hanser Verlag 2021, 22.- €

27.06.2021 - Eine herrliche neue Reihe, spannend, voller Humor und mit grundsympathischen Charakteren:
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Papa Ede, Mama Fia, Ture und seine kleine Schwester Ella könnten eine ganz normale Familie sein – aber normal ist bei ihnen fast nichts. Denn klauen, stehlen, rauben und lügen ist bei ihnen an der Tagesordnung. Der einzige, der nicht mitmachen will, ist Ture. Er kann ganz einfach nicht lügen, davon bekommt er sofort schreckliche Bauschmerzen. Und so ist der Nachbar Paul Eisig – seines Zeichens Polizist – immer auf dem neuesten Stand, was die Pläne der Familie von Stibitz angeht. Dafür und weil Ture so nett und ehrlich ist, will Paul Eisig ihm auch etwas ganz Besonderes zum Geburtstag schenken. Dass das ausgerechnet der Riesenlolli ist, den auch Familie von Stibitz Ture schenken wollte, kann er ja nicht wissen, oder?

Anders Sparring/Per Gustavsson: Familie von Stibitz. Der Riesenlolli-Raub. Hanser Verlag 2020, 10.- €

 

 

Wieder ist Paul Eisig dank Ture auf dem Laufenden und weiß: Die Eltern von Stibitz haben offensichtlich vor, den großen Gold-Diamanten zu klauen. So macht er sich auf den Weg zur Diamantenausstellung – aber nicht nur er. Ture und Ella sind inzwischen zur Großmutter ins Gefängnis gegangen, weil sie so ohne Erwachsene doch nicht zu Hause bleiben wollten. Und als die von der Diamantensache hört, ist sie gemeinsam mit ihrer Freundin Schummel-Lisa gleich Feuer und Flamme. Wer wohl zuerst da ist und den Diamanten klaut (oder beschützt)?

Anders Sparring/Per Gustavsson: Familie von Stibitz. Die Ganoven-Omi. Hanser Verlag 2020, 10.- €

 

 

Ture und der Polizist Paul Eisig sind inzwischen echte Freunde. Doch es gibt einen neuen Kollegen von Paul, Klaus, und der ist wirklich streng. So verlangt er immer wieder, dass Ella und Ture für die Dinge, die sie besitzen, eine Quittung vorzeigen können, um zu beweisen, dass sie nicht geklaut haben. Sogar für den Hund Schnüffler verlangt Klaus die Quittung. Erstaunlicherweise gibt es sogar eine – doch leider kann Ture die nicht dem strengen Klaus zeigen, und so wird Schnüffler einkassiert. Ture weiß: Jetzt muss er dringend etwas unternehmen, um seinen Hund zu retten!

Anders Sparring/Per Gustavsson: Familie von Stibitz. Ein hundsgemeiner Polizist. Hanser Verlag 2020, 10.- €

 

Auch wenn Ture versucht, es zu verhindern: Seine Schwester Ella möchte unbedingt den Golddiamanten klauen – und den hat sie bei niemand anderem als Paul, Tures Polizisten-Freund, entdeckt. Doch als die ganze Familie nachts in Pauls Wohnung einbricht, wird klar: Paul und der Diamant sind verschwunden. Hat Ture gepetzt? Ist Paul mitsamt Diamant entführt worden? Gibt es doch Gespenster? Ella, Ture und Schnüffler verfolgen die Spur, entdecken einen Tunnel im Keller, folgen mutig dem dunklen Weg – und landen im Gefängnisgarten...

Anders Sparring/Per Gustavsson: Familie von Stibitz. Auf Golddiamantenjagd. Hanser Verlag 2021, 10.- €

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Ganze zwei Wochen umfasst der Bericht, den Barnie in ihr neues Tagebuch schreibt, doch diese zwei Wochen haben es in sich: zwischen himmelhochjauchzend und zutodebetrübt, süßem Verliebtsein und bitterer Enttäuschung springen die Tage, ja Stunden hin und her. Das Leben einer 13-Jährigen ist echt nicht einfach. Und Barnies erst mal gar nicht, denn sie lebt mit zwei Vätern zusammen, für sie völlig normal, für andere offenbar (immer noch) nicht. Deutlich wird ihr das im Rahmen eines Schulprojektes gegen Schwangerschaften bei Minderjährigen. Dafür müssen jeweils zwei Schüler*innen für zwei Wochen gemeinsam für ein (Computer-)Baby sorgen. Und da Sergej – der schöne, coole Sergej! - bei ihr im Haus wohnt, bietet sich eine Zusammenarbeit als Erziehungsberechtigte doch an. Aber ist Sergej wirklich so cool?

Eine kleine, feine Idee, die zu einem gelungenen, sehr flott geschriebenen, coolen Roman gesponnen wird – klasse!

Kathrin Schrocke: Bunte Fische überall. Mixtvision Verlag 2021, 14.- €

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November versteht die Welt nicht mehr, als sie nach einem Flug mit ihrem Vater in einer mittelalterlichen Burg aufwacht und ihr erklärt wird, das sei nun ihre neue Schule. Wieso hat ihr geliebter Vater, der ihr immer alles erklärt hat, vorher nichts gesagt? Wieso hat man sie für den Weg betäubt? Und wieso glauben alle, sie sei richtig auf dieser Schule, der Academia Absconditi, in der es Schulfächer wie Messerwerfen, Akzente sprechen und Giftkunde gibt? Sie hat ihr gesamtes Leben in einer langweiligen Kleinstadt in den USA verbracht und ein sehr normales Leben geführt, und jetzt ist sie abgeschottet von der Außenwelt und alle ihre persönlichen Sachen sind weg. Und als wäre das noch nicht genug, scheinen alle Mitschüler:innen etwas gegen sie zu haben. 

Nach und nach - oft auf schmerzhafte Art und Weise - lernt November, dass sie eine Stratega ist, also Teil der Strategia-Familien. Das sind Familien, die seit sehr vielen Generationen im Geheimen leben, ihre eigene Struktur haben - und durch ihr Handeln in die Menschheitsgeschichte eingreifen. So vereiteln sie Anschläge, lenken Entscheidungen und verhindern, dass sich die Geschichte wiederholt. 

November erkennt immer mehr, dass sie vielleicht doch kein normales Leben geführt hat, dass ihr Vater ihr so einiges verheimlicht hat - und dass sie scheinbar eine sehr wichtige Rolle in der aktuellen Schieflage der Strategia spielt. Und dass es hier um Leben und Tod geht. Wem kann sie vertrauen? Wie kommt sie hier wieder raus? Und wo ist überhaupt ihr Vater? 

 

Zwei sehr spannende Bücher, eine Welt, in die man schnell eintauchen kann und die einen nicht - wie mittlerweile so viele Fantasy-Welten - langweilt. Denn auch wenn sich vieles völlig fernab der Realität abspielt, bleibt die Verbindung zu unserer Welt erhalten, und es geht nicht um irgendwelche magischen Fähigkeiten, sondern um Menschen, die ihr Handwerk exzellent beherrschen - Beschreibungen, die man wirklich gerne liest. Ebenso wie die spannenden psychologischen Analysen und das Lösen der vielen Rätsel, denen die Protagonist:innen auf ihrer Reise begegnen. Eine schöne Entwicklung außerdem, dass der zweite Band nicht - wie leider oft - enttäuschend ist, sondern nochmal richtig in Fahrt kommt. Ein persönliches Highlight war außerdem, dass es in dem Buch nicht primär um die typische romantische Liebe geht. Das zwar auch, aber viel mehr geht es um die Liebe zwischen Freund:innen und Familie.

(Ioanna Grammatikos)

Adriana Mather: Killing November & Hunting November. Dressler Verlag, 2021, 22€

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Der Löwe kann inzwischen so einiges: schreiben und lesen, rechnen und schwimmen, kochen – und jetzt auch noch malen. Die Löwin bleibt dabei wie immer geheimnisvoll im Hintergrund und wird angehimmelt. Und genau dafür muss jetzt mal mehr als ein schnöder Brief her: Ein Gemälde soll es sein, „Für dich und aus Liebe und weil ich es kann". Natürlich helfen die anderen Tiere auch hier und drängen dem Löwen jeweils ihre höchstpersönliche Lieblings-Kunstrichtung auf...bis der Löwe mal wieder explodiert und sich endlich alle gemeinsam ans Werk machen.

Baltscheit darf hier nach Herzenslust das machen, was er so gerne macht und so gut kann: malen! Großartig, wie er die Löwin in unzähligen stilistischen Varianten auf die Leinwand bringt (am besten gefallen mir Munch und Basquiat)! Dass man beim Vorlesen nebenbei auch noch einen kunstgeschichtlichen Exkurs anbringen könnte (aber nicht muss), ist ein willkommenes Sahnehäubchen.

Martin Baltscheit: Die Geschichte vom Löwen, der nicht malen konnte. Beltz & Gelberg Verlag 2022, 14.- €

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Das Ende ist der Anfang und umgekehrt. Und am Anfang stürmt Mattis und Samis Vater fluchend aus dem Haus und kommt nicht zurück. Besorgt und verwirrt bleibt der Rest der Familie zurück, Matti vor allem aber voller Reue. Und dann erzählt er – und der Rückblick beginnt. Die Familie ist gerade zurück nach Deutschland gezogen, und obwohl sie nur etwa 2 Monate in Finnland lebten, hat Sami furchtbar Heimweh und ist unglücklich. Matti eigentlich nicht, wie seine Mutter ist er ganz froh, wieder in Deutschland und bei seinem Onkel Kurt zu leben. Auch wenn er Finnland schon ein bisschen vermisst. Seine Mutter findet einen neuen Job und sein Vater arbeitet immer mehr als Handyspieleerfinder, eigentlich sein Traumjob. Doch Matti findet, dass es langsam zu viel wird. Nie hat er Zeit, immer wieder vertröstet er Matti und Sami, sogar die Ferien in Finnland stehen zur Debatte. Spätestens als Matti jedoch den Eindruck hat, dass nicht nur bei ihnen alles schief läuft, sondern seine Familie in einer Art kosmischer Verkopplung mit der Familie seines besten Freundes Turo verlinkt ist und dort daher gerade ähnliches passiert – spätestens da weiß Matti, dass er eingreifen muss... bis es schließlich dazu kommt, dass Mattis Vater fluchend aus dem Haus läuft.

Vielleicht der schönste der drei Matti-und-Sami-Geschichten: So liebevoll, einfallsreich, mitfühlend, lustig und weise war Matti lange nicht!

Salah Naoura: Matti und Sami und das größte Stück vom Glück. Beltz & Gelberg Verlag 2022, 13.- €

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Tara und Alún – Freunde und Nachbarn seit Ewigkeiten, dann plötzlich magisch zueinander hingezogen - haben sich dermaßen zerstritten, dass seit einem halben Jahr eisiges Schweigen zwischen ihnen herrscht. Ein Schweigen, das von Tara ausgeht, die Alún etwas nicht verzeihen kann, obwohl der auf alle möglichen Arten schon versucht hat, sich zu entschuldigen. Was vorgefallen ist, erfahren wir spät – und sind dann völlig einer Meinung mit Rose, einer Künstler-Freundin Alúns, die ihm sagt: Das warst du, Sohn deiner Eltern. Du bist aber auch noch ganz anders, und das solltest du Tara langsam zeigen. Genau das versucht Alún nun mit einer abgefahrenen Street Art-Aktion umso verzweifelter, seit er nach einem Chemieunfall in einer Fabrik in der Nähe ihres Wohnorts mit seiner Familie Hals über Kopf in die Stadt geflohen ist. Taras Familie wurde zwar wie alle aus dem Bereich auch für ein paar Monate evakuiert und in Sammellagern untergebracht, doch ihre Familie gehört zu denjenigen, die wohl oder übel zurückkehren müssen. In der sogenannten Gelben Zone leben jetzt nur noch die, die es sich woanders nicht leisten können, und sie werden bald komplett ignoriert vom Rest des Districts. Obwohl (oder gerade weil?) sich bald zeigt, dass der Chemieunfall nicht - wie von der Firma behauptet - ungefährlich war, sondern bei vielen schwere gesundheitliche Schäden nach sich zieht. Auch Tara ist betroffen. Gemeinsam versuchen die Rückkehrer-Jugendlichen trotzdem irgendwie klarzukommen, schwankend zwischen Zynismus, verzweifelter Hoffnung und Wut. Tara merkt zudem, dass sie längst nicht über Alún hinweg ist, doch auch die seltsame Nachbarin, Ste, ein junges Mädchen, das völlig alleine in Alúns leerstehendes Haus gezogen ist, fasziniert und irritiert sie. Ste aber weiß Sachen über Tara und über Alún, die sie eigentlich nicht wissen kann und soll. Wer ist sie, was spielt sie für ein Spiel? Kann sie Tara und Alún wieder zusammenbringen? Und will sie das überhaupt?

Ein sehr spannend und flott geschriebener Roman, der eine gut lesbare Mischung aus Spannung, Grusel und Liebe bietet, dazu eine Prise Dystopie und etwas Gesellschaftskritik. Dass die Aktivisten um den Chemieunfall ihre Gruppe nach Alúns Liebe benannt haben und eben diese Liebe am Ende die Aktion rettet, ist ein gelungener Kniff, der mal wieder beweist: Das Private ist politisch.

Katharina Bendixen: Taras Augen. Mixtvision Verlag 2022, 17.- €

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„Danke für den Beweis, dass hier an dieser Schule wirklich jeder mit jedem fair und vernünftig arbeiten kann." – Mit diesen Worten möchte der Klassenlehrer die Unterstufler entlassen, nachdem sie ihre Projekte für das Schulfest vorgestellt haben. Doch das kann Lizzy beim besten Willen nicht so stehen lassen. Lange und wenig schöne Erfahrungen als gemobbte Außenseiterin haben sie gelehrt, dass die Realität eine andere ist. Und so kommentiert sie: „Was für eine verlogene Scheiße!" – und zufällig ist es gerade so still in der Aula, dass alle es hören. Lizzy muss sich erklären („Arsch bleibt Arsch und macht die Drecksarbeit") – woraufhin ihr aufgetragen wird, doch ihre eigene Projektgruppe zu gründen. Nach anfänglichem Widerwillen packt Lizzy die Sache an und entwickelt mit dem „Klub der Verlierer" ein unglaubliches Projekt... 

Mario Fesler: Lizzy Carbon und der Klub der Verlierer. Magellan Verlag 2019, 12.- €

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Zwei Schuljahre später – Lizzy und ihre beste Freundin Kristine sind jetzt in der 9. Klasse – hat Lizzy außer ihren chronischen Bruder- und Gewichtsproblemen weniger Sorgen. Denkt sie. Doch dann häufen sich die Auseinandersetzungen ihrer Eltern, Kristine leidet unter schrecklichem Liebeskummer und der hübsche neue Junge an der Schule ist der „verratene Prinz" – der ins Internat abgeschobene Sohn von Freunden ihrer Eltern. Zum Glück zieht Nils ins Nachbarhaus, ein unglaublich verständnisvoller Künstler, der super zuhören kann und zu dem es Lizzy immer wieder zieht. Nur leider scheint es ihren Bruder auch vermehrt in Nils' Haus zu ziehen, was Lizzy eher als störend empfindet. Als Kristine endlich über ihren dämlichen Schwarm hinweg ist, findet sie furchtbarerweise gleich einen nächsten, in Lizzys Augen ein absolutes no-go. Sie selbst verliebt sich in den Prinzen, Dominik, und - oh Wunder – ihr Interesse wird erwidert! Doch glatt geht deswegen noch lange nicht alles...

Mario Fesler: Lizzy Carbon und die Wunder der Liebe. Magellan Verlag 2020, 12.- €

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In der 10. Klasse steht die Wahl zum Schulsprecher an. Eigentlich nichts für Lizzy, doch ihre ehemaligen Klub-der-Verlierer-Mitglieder sehen das anders und nominieren sie heimlich. Lizzy ist erst entsetzt, beschließt dann jedoch, das Ganze als willkommene Abwechslung und Gelegenheit zu sehen, mit ihren alten Freunden nochmal etwas auf die Beine zu stellen. Doch dann packt sie der Ehrgeiz. Und nicht nur der, die Wahl ermöglicht ihr auch, einen ganz persönlichen Rachefeldzug gegen ihren ehemaligen Lehrer zu führen. Der hat nämlich inzwischen eine Beziehung mit ihrer Mutter angefangen, die Carbon'sche Ehe scheint nicht mehr zu retten. Und dafür hasst Lizzy ihn und gibt ihm die Schuld an der endgültigen Trennung ihrer Eltern. Die Frage ist, ob ihr Team diesen Weg mitgehen wird...

Mario Fesler: Lizzy Carbon und die Qual der Wahl. Magellan Verlag 2021, 12.- €

Lizzy wird älter, die Themen ändern sich entsprechend: Mobbing in der Unterstufe, Liebe und ihre verschlungenen Wege sind prägend, wenn man 15 ist, Verantwortung für Entscheidungen und Handeln werden wichtig, wenn man 16 und älter ist. Das ist großartig, die sind Themen fein gewählt, die Form konstant gelungen in der Abwechslung von Tagebucheintragungen und Erzählung, die Aufmachung sehr ansprechend. Aber endgültig überzeugen die Bücher allesamt durch ihren wunderbaren Stil, die Sprache (anspruchsvoll, aber nie gestelzt, ein außergewöhnlich umfangreicher Wortschatz und sehr viel herrlicher Humor), den Witz. Eine Wohltat in dieser Sparte des witzigen (Mädchen-)Jugendbuchs!

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Dummheit – das weiß man leider – ist eines der großen Probleme der Menschheit. Schönheit dagegen – auch das ist bekannt – wird oft überbewertet. Dass nun aber ein extrem schöner Schnösel, der mit der Schönheitsindustrie auch noch wahnsinnig viel Geld gemacht hat, meint, die Dummheit abschaffen zu müssen, und dabei quasi über Leichen geht, ist zu viel. Davon ist Juan, die sprechende Maus des Todes, überzeugt. Mit Hilfe eines abtrünnigen Mitarbeiters aus dem Labor des Schnösels kommt sie frei und übernimmt die Mission „Welt retten". Dafür hat sie eigentlich nur einen Partner: Max, den zehnjährigen Enkel des Mitarbeiters. Doch bald kommen noch zwei superschlaue (und leider ziemlich unsoziale) Klassenkamerad*innen von Max dazu: Pascal und Shakira.  

Wilde Story, spannend und mit Witz erzählt!

Mario Fesler: Extrem gefährlich. Maus mit Mission. Magellan Verlag 2019, 15.- €

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Antoine Blanche, der ungemein schöne Fiesling, dessen Idee es war, die Dummheit abzuschaffen, und dem Max, Shakira, Pascal und die hochintelligente Maus Juan im ersten Band der Reihe das Handwerk gelegt haben, ist im Gefängnis gelandet und hat dort interessante Bekanntschaften gemacht. Ob das an dem sprechenden Hamster Jerome lag, den er bei sich hatte? Oder an Shakiras Vater, der ebenfalls einsaß? Jedenfalls hat sich ein gewisser Herr Niemand gemeldet und sowohl Antoine als auch Shakiras Vater mit dem Versprechen von sehr viel Geld zu einer Art Kooperation gebracht. Herr Niemand allerdings ist ein Kriegstreiber und Bösewicht erster Güte, der sicher nichts Harmloses im Schilde führt. Und welche Rolle spielt Jerome in der Sache? Zunächst wird er bei Antoines Entlassung an Shakiras Vater weitergereicht, der ihn bei seiner Entlassung wiederum Shakira vermacht. Und die ist hin und weg. Zumal sie gerade furchtbar einsam ist, denn Max und Pascal müssen in den Sommerferien in ein Lerncamp, wo sie doch schon so tolle gemeinsame Pläne gemacht hatten. Dieses Lerncamp ist allerdings die Hölle – und zumindest Pascal auch ziemlich suspekt. Als Juan plötzlich auftaucht und zur Flucht rät, lässt er sich das nicht zweimal sagen und haut mit Max ab. Shakira hat unterdessen einen Anruf von Herrn Niemand erhalten – und der verheißt nichts Gutes...

Klingt verwirrend? Keine Spur: Einmal eingestiegen, ist man so bei der Sache und vor allem bei den sympathischen Held*innen, dass man jedem verrückten Winkelzug der Geschichte gerne folgt, sich über Cliffhanger und Überraschungen freut und auch die waghalsigen Zufälle und Wendungen großzügig akzeptiert. Besonders genossen habe ich Feslers meisterhafte Kunst, den potenziell dramatischsten und pathetischsten Momenten durch komplett unangemessene Kommentare der Beteiligten den heiligen Ernst zu nehmen. Herrlich.

Mario Fesler: Extrem gefährlich. Hamster Undercover. Magellan Verlag 2020, 15.- €

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Auch dieses Nagetier – Sophie, eine sehr intelligente Ratte – kommt zu einem unserer Helden in einem Moment großer Verunsicherung und Einsamkeit. Pascal hat soeben von seinen Eltern erfahren, dass sie ihn in ein Internat schicken wollen. Er ist am Boden zerstört – und da taucht Sophie auf und tröstet ihn. Denn sie kann ihn nur zu gut verstehen: Als hochintelligente Ratte ist man unter den einfachen Kanalratten nicht glücklich. Und gerade hat ihre Schwester, die einzige ebenso intelligente Ratte, sie auch noch verlassen, da sie es bei den Menschen nicht aushält. Sophie dagegen schätzt es sehr, sich gepflegt und anspruchsvoll zu unterhalten. Doch einsam fühlt sie sich trotzdem. Sie lernt Shakira (die Pascal plötzlich irgendwie viel charmanter findet als sonst) und Max kennen, die Maus Juan und den Hamster Jerome, und alle zusammen finden sie auch heraus, wie Sophie und ihre Schwester so hochintelligent geworden sind: Es gab offenbar noch Reste des Intelligenz-Pulvers aus dem ehemaligen Labor von Antoine Blanche. Und auch die Maschine zur Herstellung des Pulvers existiert überraschenderweise noch. Das schreit doch geradezu nach Gefahr im Verzug!

Wie oft passiert es dem und der vorfreudigen Leser*in, dass der dritte Band einer lustig-spannenden Reihe überdreht, übertrieben und nur noch Klamauk ist. Nicht so hier! Okay, das gleiche Konzept, ein sehr ähnlicher Plot auf den Grundpfeilern Gefahr, Spannung, Freundschaft und Weltrettung  (das ist jedoch Programm und schon im Titel vorgegeben) – aber die Personen bleiben sympathisch und erhalten Gelegenheit, sich zu entwickeln, die Dialoge sind flott und oft komisch, die gesamte Geschichte ist gleichzeitig lässig, lustig und sehr spannend erzählt. Große klasse!

Mario Fesler: Extrem gefährlich. Ratte mit Plan. Magellan Verlag 2021, 15.- €

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Ein großes Vergnügen in Reim und Bild!

 

Na, was ist das denn für eine abschreckende Aufzählung von Unmengen an Hunderassen, eingeleitet mit dem Satz „Du kriegst einen Zierfisch, und Ruhe ist am Biertisch"? Der Ton ist damit gleich klar, und die Absicht, der Tochter den Hundewunsch auszutreiben, sowieso: Wie soll man sich bei dieser endlosen Reihung denn auch einen Hund aussuchen können? Irgendwann kann die Tochter nicht mehr und gibt auf. Wie war das mit dem Zierfisch? Doch da kennt sie ihren Papa schlecht, der sofort gnadenlos beginnt, die hunderten von Zierfischarten aufzuzählen...

Was für die arme Tochter eine Qual, ist für uns Leser*innen ein großes Vergnügen in Bild und Reim!

Ernst Kahl/Eva Muggenthaler: Papa, ich will einen Hund! Peter Hammer Verlag 2022, 16.- €

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Schon oft gesehen, gelesen gehört? Vielleicht – bleibt trotzdem wichtig!

 

Das komische Gefühl soll wichtig sein? Hm, eigentlich will man doch nur, dass es vorbeigeht, weil es so unangenehm ist...aber eigentlich stimmt es ja: Das Gefühl ist da und nicht schön, weil die Situation unangenehm ist. Und so warnt es dich und macht dir klar: etwas stimmt hier nicht. Sei es alleine im Dunkeln zu sein, vom Sportlehrer unter der Dusche zu lange beobachtet zu werden oder seien es die komischen Berührungen von deinem Onkel beim Vorlesen – das Gefühl irgendwo zwischen Herz und Bauch ist da und sagt dir: Tu etwas! Wehr dich, sag Nein, hol Hilfe. 

Schon oft gesehen, gelesen, gehört? Vielleicht – aber es ist ja auch ein wichtiges Thema. Und hier sehr klar, einfach, eindeutig und dabei differenziert umgesetzt. Und um ein komisches Gefühl deuten zu können, muss man wissen, was es ist. Und natürlich, was man dann damit macht.

Hans-Christian Schmidt/Andreas Német: Das komische Gefühl. Klett Kinderbuch Verlag 2022, 15.- €

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Wilde Bilder, starkes Mädchen und eigenwillige Oma in einer modernen Geschichte!

 

Erst klingt es ja ein bisschen langweilig, Ferien bei Oma, wo die anderen mit so tollen Sachen wir Londoner Zoo oder Urlaub in Dänemark prahlen. Wenigstens das süße Kuschelkaninchen könnte die Oma ihr doch kaufen, denkt Anna, damit sie das nach den Ferien vorzeigen kann. Doch Oma hat da eine andere Idee, und die klingt spannend und könnte ihr sogar noch zu dem Kuschelkaninchen verhelfen. Anna soll Omas Ferienjob übernehmen und die Nachbarhäuser hüten. Na, das ist doch babyleicht, oder? Vor allem, wenn man schon zählen kann: 1 Schlange im 1. Haus, 2 Kaninchen im zweiten bekommen 2x am Tag 2 Möhren, für 3 Vögel gibt es 3 Körnerknödel...und am Ende verdient Anna genau soviel Geld, wie sie für das Kuschelkaninchen braucht. Wenn sie den Job gut macht. Ob das klappt?

Wilde, farbenfrohe und ausdrucksstarke Bilder zeigen ein selbstständiges und willensstarkes Mädchen mit ihrer individualistischen und sehr modernen Oma in einer wunderbaren Geschichte aus dem täglichen Leben. Klasse!

Mari Kanstad Johnsen: 3, 2, 1 – Anna und Oma zählen los. Beltz & Gelberg Verlag 2022, 22.- €

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Vier volle Monate ist das Freibad geöffnet, von Mai bis September – und Alf, Katinka und Robbie haben eine Freikarte für die gesamte Saison! Wenn das nicht Glück pur bedeutet! Das Wetter ist zwar ziemlich durchwachsen und die Bademeister sind nicht alle gleich freundlich, aber dafür gibt es Johanna, die Alf ganz besonders fasziniert, und die aufregende Idee, eine Nacht ins Freibad einzubrechen und die Becken bei Mondschein für sich allein zu haben. Die Geschwister schmieden einen Plan, doch auch ohne den wachsen alle drei in diesem Sommer über sich hinaus!

Will Gmehling: Freibad. Peter Hammer Verlag 2019, 15.- 

 

 

Der Freibadsommer ist vorbei, es wird Herbst, Winter, Weihnachten und wieder Frühling. Katinka verfolgt mit gnadenloser Konsequenz ihre Karriere als Model in Paris, bekommt eine tolle eigene Französisch-Nachhilfelehrerin und bringt sogar den Onkel und seine neue Freundin dazu, sie auf ihr Wochenende in Paris mitzunehmen. Das ist Alf schon fast unheimlich. Robbie wünscht sich manchmal, nicht in die Schule gehen zu müssen, um auch mal in Ruhe seine Ruhe haben zu können. Aus seinem Bruder wird Alf manchmal nicht schlau. Es ist ihm ein Rätsel, was Robbie so sieht und denkt, wenn er in den Himmel oder an die Wand schaut und die Welt um sich herum vergisst. Hin und wieder verschwindet Robbie auch, doch er kann sicher sein, dass seine Familie ihn findet. Und Alf? Auch er weiß, dass er sich auf seine Familie verlassen kann, aber auch er braucht seine Rückzugsorte und stillen Momente. Zum Glück hat er das Butterfly, wo er boxen lernt und sich genau richtig fühlt. Und dann ist da noch Johanna...

Gmehling zeigt: Man braucht keine spektakulären Abenteuer mit überzogenen Bösewichten und Helden – wenn man gut erzählen kann, reichen auch die Helden des Alltags und ihr kleines Leben für eine große Geschichte. Und dass hier mal alles stimmt innerhalb der Familie und die Protagonist*innen auf ihre Art mit der Welt und ihrem Leben klarkommen, ist erstaunlich wohltuend. 

Will Gmehling: Nächste Runde. Peter Hammer Verlag 2020, 15.- €

 

 

Für diejenigen, die die ersten beiden Bände über die Bukowskis gelesen haben, ist es ein bisschen wie nach Hause kommen: Gmehling bleibt sich und seinen Held*innen treu, begleitet sie weiter auf ihrem Weg und erzählt liebevoll von ihren kleinen und größeren Abenteuern. Von dem Kiosk, dem „Büdchen", das die Eltern mit finanzieller Hilfe von Onkel Carl eröffnen, von Katinkas Modekollektion, die sie weiterhin mit eisenhartem Willen verfolgt, von Robbies träumerischen Art, durch das Leben zu gehen. Er lässt wieder Alf sprechen, und der erzählt in einfacher, direkter Art und Sprache, super lesbar auch und gerade für Jungs in Alfs Alter, die nicht gerne oder viel lesen. Denn Alf fängt irgendwo an und hört irgendwann wieder auf, und „dazwischen habe ich einfach hintereinander aufgeschrieben, was war. Es fing damit an, dass wir beim Zahnarzt saßen. Dann kommt Onkel Carls Geld. Dann das Büdchen. Georg Elser. Johanna. Mütze. Das Gehirn. Alles hintereinander, exakt so, wie ich es mag."

Will Gmehling: Das Elser-Eck. Peter Hammer Verlag 2020, 15.- €


Warum ist das nicht langweilig, warum ist das nicht kitschig? Weil Gmehling von einem alltäglichen Leben einer einfachen Familie berichtet, ohne banal zu werden, ohne die Tiefe und Komplexität seiner Figuren und ihre Gedanken zu verflachen, weil er liebevoll erzählt, ohne die Abgründe auszublenden, grundoptimistisch, ohne die Probleme zu ignorieren. Und weil er einfach gut erzählen kann. 

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