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Im Grunde ist sein Cousin Tom schuld daran, dass Chris sich auf die Challenge mit seinem Patenonkel Steffen eingelassen hat. Wenn der nicht als letztes Ass im Ärmel gesagt hätte, dass die 1000 Euro dann eben an Tom gehen, wenn Chris nicht mitmacht, wäre Chris doch niemals auf ein Fahrrad gestiegen, sondern vor seinem PC geblieben, hätte weiter seine Döner bestellt und kein Tageslicht in sein Zimmer gelassen. Doch bevor der verhasste Cousin mal wieder gewinnt, geht Chris lieber auf Steffens Vorschlag ein. Nun muss er in den Ferien 1000 km Rad fahren und dazu noch ein Logbuch führen...und nun kann man sich den Rest denken? Mit jedem Kilometer wird Chris fröhlicher und beginnt, Radfahren zu lieben, die Natur, die Bewegung, vergisst seine Computerspiele und die Döner, wird ein neuer Mensch? Nicht weit, aber gefehlt, zum Glück, denn das wäre arg vorhersehbar gewesen. Schon nach wenigen Tage hat Chris tatsächlich eine ganz neue Idee, was er mit den 1000 km anfängt: Er stellt sich selbst die Challenge, alle Dönerbuden im Umkreis zu testen, über die er dann auch gleich in seinem Logbuch schreibt. Dass es im Grunde um eine einzige Dönerbude und genauer: um ein Mädchen, das dort arbeitet, geht, merkt man schnell. Doch bevor Chris sich endlich traut, diese wichtigste Dönerbude zu betreten, passieren noch so einige überraschende Zwischenfälle. 

Durch die unvorhergesehenen Wendungen, die witzigen Beschreibungen der verschiedenen Dönerbuden-Typen und die sehr flotte und lässige Sprache punktet der Autor in einer etwas zu glatten Geschichte mit einem etwas zu flugs komplett umgekrempelten Helden. Liest sich trotzdem nett und macht gute Laune.

Stefan Gemmel: Abenteuer eines Döner-Checkers. Cbj Verlag 2022, 13.-€ 

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Der Anfang schockt, auch wenn man vom Klappentext weiß, was passieren wird. Die Ausweglosigkeit und das Luftabschnürende in Helenes Leben werden in den wenigen Sätzen so deutlich, dass ihr Selbstmord einfach nur folgerichtig, unvermeidbar, alternativlos erscheint. Was in dem sich dann entfaltenden Roman von den beiden Hauptfiguren, die mit Helenes Tod klarkommen müssen – Sarah, die beste Freundin, und Lola, die Tochter – von vielen Seiten mal nachvollzogen, aber auch hinterfragt wird. Sarah fühlt sich schuldig, glaubt, etwas nachholen, aufholen, wiedergutmachen zu müssen, und nimmt daher immer mehr die Rolle von Helene ein, hilft im Haus und vor allem mit den Kindern. Sie erlebt hautnah, was Helene in die Enge getrieben hat: „Sie muss die Arme um sich schlingen, sich selbst umarmen, um zu spüren, dass sie eine Grenze hat, eine fühlbare Körpergrenze, die niemand überschreiten darf. Eine derartige Belagerung, eine solche Ausweglosigkeit hat sie noch nie gefühlt..." Die Beschreibungen von Sarahs Erfahrungen sind von einer beeindruckenden Dichte und psychologischen Durchdringung, dabei unerhört, aufrüttelnd, mutig. 

Lola dagegen kann sich momentweise in ihre Mutter hineinversetzen, doch folgt nie deren Gefühl des Ausgeliefertseins. Bei ihr wächst stattdessen in erster Linie eine Wut auf die Umstände, die ihre Mutter in den Tod getrieben haben. Bis sie ihre Wut kontrollieren und in eine Richtung lenken kann, muss einiges passieren, was zu Beginn spannend und nachvollziehbar erzählt wird. Man fühlt mit Lola, versteht ihre Wut, kann ihren Vorwürfen zustimmen. Bis zu einem gewissen Punkt. Da verengt sich die der Roman dann leider, die Handlung reduziert sich, wird weniger komplex, stattdessen action-reicher. Und der Roman bleibt dann ein wenig eindimensional bei der einen Lösung – der Wut, die bleibt -, die am Ende aber keine ist. Oder ist ein vielleicht doch die einzig mögliche?

Mareike Fallwickl: Die Wut, die bleibt. Rowohlt Verlag 2022, 22.- €

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Auch wer die beiden früheren Romane von Kirsten Boie nicht kennt, in denen die Held*innen ihre ersten Abenteuer erleben: Der Junge, der Gedanken lesen konnte und Entführung mit Jagdleopard, freundet sich schnell mit den vier Hauptpersonen an. Der kluge Valentin und sein forscher Freund Mesut, die bereits einen ersten Kriminalfall gelöst haben und nun scharf darauf sind, weiterzumachen, und Jamie-Lee und ihre Freundin Fee. Letztere ist die im Titel erwähnte Milliardärstochter, bei deren Familie eingebrochen wird, die erste wichtige Hinweise gibt, dann aber bei den weiteren Ermittlungen krankheitsbedingt fehlt. Jamie-Lee wiederum ist in erster Linie daran interessiert, spannenden Stoff für ihre Hausarbeit „Buch über mich" zu sammeln, erweist sich jedoch als unerschrocken und cool. Und auch wenn die vier anfangs durch ein klein wenig weit hergeholte Begebenheiten und Umstände als Team zusammenkommen, geht es dann schnell zur Sache und bleibt bis zum dramatischen Finale spannend. Alle Figuren, auch die Mütter und Männer, sind liebevoll und lebensnah gezeichnet und runden die mitreißende Geschichte gelungen ab. Wie froh wir sein können, dass Kirsten Boie nicht Friseurin geworden ist!

Kirsten Boie: Gangster müssen clever sein. Oetinger Verlag 2022, 15.- €

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Ein bisschen stolpert man ungestüm in die Geschichte hinein, als könnte es der Autor selbst nicht erwarten, von all den spannenden Abenteuern zu berichten, die in seinem Kopf herumspuken. So hält er sich nicht lange auf mit dem Unfall, der Paula überhaupt erst auf die schwimmende, lebendige Insel der Zeit bringt, sondern berichtet etwas eilig von ihrem gefährlichen Unfall, und schon ist Paula dort und trifft auf die ersten wunderlichen Gestalten. Und während man sich eigentlich noch ein wenig an die Sprachungetüme der Inselbewohner*innen gewöhnen müsste, geht es Schlag auf Schlag und die Geschichte nimmt an Fahrt auf. Orths wartet dabei nicht nur mit vielen originellen und phantasievollen Merkwürdigkeiten rund um das Phänomen Zeit auf, er hat auch immer spannender werdende Abenteuer für seine Held*innen auf Lager. Und so vergisst man als Leserin irgendwann selbst die Zeit und ist glücklich abgetaucht in Paulas Erlebnisse auf der Insel Chronossos.

Markus Orths: Baddabamba und die Insel der Zeit. Ueberreuter Verlag 2022, 14.95 €

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Jontes Opa lebt seit dem Tod von Oma Ilse alleine in dem großen Haus mit Garten im Kirchenstieg. Ein Paradies, finden Jonte und ihr Freund Schippo, vor allem mit dem Kuchen-Abo der Nachbarin Annelies Stechmann (die auch abgesehen davon eine prima Oma abgeben würde, spätestens seit sie den Satz „Geschenke verdient man sich nicht. Die kriegt man einfach so" fallengelassen hat.) Doch Jontes Mutter macht sich Sorgen um ihren Vater, er scheint häufig verwirrt, vergisst Dinge, benimmt sich seltsam. Und an Alzheimer sind schon andere in der Familie erkrankt. Ein Heimplatz wird vorgeschlagen und ein Besichtigungstag wird schneller verabredet, als Jonte überhaupt diese schreckliche Neuigkeit verarbeiten kann. Ihr ist jedoch sofort klar, dass Opa niemals in ein Heim will und sowieso vermutlich gar nicht krank ist. Um das zu beweisen, holt sie zu Schippo ihre Geschwister ins Boot. Doch es läuft nicht alles nach Plan – und Jontes Mutter ist bekanntlich „sturer als der Gullideckel auf dem Schulhof hinten rechts." (was ist das denn bitte für ein herrlicher Vergleich?!). Am Ende muss ein Plan B her, der jedoch nicht wirklich zu Ende gedacht ist. Doch Jonte weiß: „Wenn man immer alles zu Ende denkt, hat man irgendwann keine Zeit mehr, um überhaupt anzufangen."

Wer Geschichten so gut erzählen kann wie Silke Schlichtmann, kann sich getrost auch schwierigen Themen zuwenden. Demenz, Alzheimer, zum Pflegefall werden – nicht unbedingt naheliegend, darüber ein Kinderbuch zu schreiben. Dabei doch eigentlich schon, denn in wie vielen Familien sind genau das Probleme, die bevorstehen oder bereits gelöst werden müssen? Gut also, dass gerade Schlichtmann dieses Buch geschrieben hat, denn sie kann es: eine gute Geschichte über ein ernstes Thema liefern, mit Humor, Witz und einer Leichtigkeit geschrieben, die nur aufkommen können, wenn man den Protagonist*innen auf Augenhöhe begegnet. Genau wie die wunderbaren Beobachtungen (warum es logisch ist, dass man seinen Führerschein bei der Polizei abgibt – klasse!) und weisen Einsichten ganz sicher einer großen Empathie mit und guten Kenntnis von der kindlichen Perspektive entspringen.

Silke Schlichtmann: Reißaus mit Krabbenbrötchen. Hanser Verlag 2022, 15.- €

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Noch ein Buch über Fake News und Verschwörungstheorien, ein Sachcomic, großzügig und übersichtlich gestaltet, wodurch das Lesen, trotz viel Text für einen Comic, leichtfällt. Braucht man das? Ein klares Ja, auch wenn es ein paar Kleinigkeiten zu kritisieren gibt. Aber hey, je mehr junge Menschen sich mit dem Thema auseinandersetzen, desto besser – und bei Comics ist die Chance nicht gering, dass sie zugreifen.

Vorgestellt werden verschiedene Verschwörungstheorien von den Thruthern und den Illuminati bis zu den Flat-Earthern, Klimaskeptikern und Impfgegnern. Ungewöhnliche Mischung.  Dazwischen ein Kapitel über Nordmazedonien als Fake-News-Fabrik, eines über Trump, eines klärt über Algorithmen auf, eines beschreibt die Geschichte der Fake News, eines versucht zu erläutern, warum die Menschen auf Fake News hereinfallen. Mit Tipps zur Vermeidung, klar. Insgesamt also ein buntes Potpourri rund um das Thema. Einige Kapitel sind sehr ausführlich, andere kommen etwas kurz, hin und wieder werden Fragen aufgeworfen und nicht beantwortet, Themen angerissen und nicht weiterverfolgt, was ein klein bisschen unbefriedigend ist. Zum Teil gehen die Bilder so weit über den erklärenden Text hinaus, dass sie nicht leicht zu entschlüsseln sind. Doch der Informationsgehalt und auch der Skurilitätsfaktor was die teilweise sehr schrägen Theorien angeht stehen im Vordergrund und machen das Buch zu einer lohnenden Lektüre.

Doan Bui/Leslie Plée: Glauben Sie an die Wahrheit? Carlsen Verlag 2022, 22.- €

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Wenn jemand eine Schraube locker hat, liegt es immer an der Mutter. Hier ist der Roman, der diesen Satz, der Sigmund Freud zugeschrieben wird, beweisen kann.

 Gleich zu Beginn erfahren wir, dass einer der drei Drumm-Brüder unschön gestorben ist und wir erhalten auch einen ersten Hinweis auf eine Rivalität zwischen den verbliebenen beiden um eine gewisse Daisy. Dann geht es los: Auf gut 300 Seiten berichten die Brüder der Reihe nach von ihrem Leben, hin und herspringend zwischen den Jahren von ihrer Kindheit bis fast zum Zeitpunkt der Beerdigung. William, der älteste, beginnt den Reigen und hat auch den größten Anteil – und ist dabei leider der unsympathischste der drei Brüder, um nicht direkt zu sagen: ein sexistisches, arrogantes und egoistisches Arschloch. Es ist kein Vergnügen, seinen Bericht zu lesen, angefangen mit den Erzählungen rund um die Mutter, die ihn offen den anderen beiden Brüdern vorzieht und ständig bevorteilt, bis hin zu seinen unangenehmen Frauengeschichten, für die er am Ende zurecht im Rahmen der #metoo-Bewegung bezahlen wird. Und natürlich kommen immer wieder die Brüder ins Spiel, die er wahlweise hintergeht, betrügt, verachtet oder einfach ignoriert. Daisy, erfährt man hier, ist die Tochter, mit der Susan schwanger war, als die beiden geheiratet haben. Es folgt der Bericht – tatsächlich ist der gesamte Roman, egal, welcher der Brüder gerade erzählt, in einem leicht distanzierten, an einen Bericht erinnernden Stil gehalten - von Luke, dem jüngsten der drei Brüder. Von Anfang an wird Luke von der Mutter mies behandelt, immer benachteiligt, nie ernst genommen, für verrückt erklärt, geradezu gehasst. Sein Leben lang versucht Luke, die Anerkennung dieser Mutter zu gewinnen, er schafft es nie. Der Vater der Drumm-Brüder, der einzig liebenswerte und freundliche, herzensgute Mensch in dieser Familie, der Luke immer zur Seite steht, stirbt früh, Luke ist noch ein kleiner Junge. Er wird dann, auch für ihn selbst überraschend, schon im Teenager-Alter ein Pop-Star, kommt jedoch nie mit seinem Leben klar, nimmt Drogen, trinkt viel zu viel Alkohol, stürzt immer wieder ab, hat Psychosen und Depressionen. Sein Bruder William ist nie eine Hilfe, sein Bruder Brian übernimmt irgendwann die Manager- und Unterstützer-Rolle. Brian ist der dritte Bruder, der im Anschluss berichtet, und hier lesen wir einige Episoden noch einmal aus einer ganz anderen Perspektive, und nicht selten erkennen wir, wer hier alles wie falsch spielt und die anderen hintergeht. Einzig Luke scheint naiv und gutgläubig, jedoch leider psychisch völlig instabil. 

Und dann enden die Berichte und es folgt der zweite Teil. Hier zeigt sich, wie wichtig der lange, ausführliche und sich auch mal wiederholende Aufbau in Form der drei Brüder-Berichte im ersten Teil war: Nach diesen über 300 Seiten Vorbereitung und Einführung in die Leben der Brüder, explodieren sämtliche versteckten Bomben und Granaten in einem kurzen, nur 50 Seiten dauernden Feuerwerk der Zerstörung. Jeder Verrat wird aufgedeckt, jeder Betrug erkannt, alle Geheimnisse werden verraten, alle Boshaftigkeiten, jede Hinterhältigkeit, alle Grausamkeiten kommen ans Licht. Wer dabei draufgeht, ahnt der Leser bald. Aber es bleibt nicht bei dem einen...

Liz Nugent: Kleine Grausamkeiten. Steidl Verlag 2021, 24.- €

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Spätestens als Nina „Schalom, Nina" in die Kamera sagt und alles noch einmal anders wird, hat das Buch mich endgültig gepackt. Verraten kann ich diesen Twist nicht, aber er lässt den weiteren Verlauf der Geschichte in einem anderen Licht erscheinen, ändert den Blick auf alle Personen. Die Personen sind: Vera, 90 Jahre alt, ihre Tochter Nina und deren Tochter Gili sowie Veras Stiefsohn, Rafael, der Vater von Gili. Gili ist die Erzählerin, die Protokollantin, das Scriptgirl, sie notiert alles und filmt, wo sie kann. Es soll um das Leben Veras gehen, es soll Gilis erster echter Film werden, gelernt hat sie bei Ihrem Vater. Und von Anfang an weiß Gili, dass es auch und vor allem um ein Geheimnis geht, eine alte Schuld Veras gegenüber Nina, die endlich ans Licht kommen, über die endlich gesprochen werden muss. 

Faszinierend, erschütternd, beeindruckend: Die Geschichte dieser ungewöhnlichen, starken Frau Vera, die so viel Heldenmut, Rückgrat und Haltung beweisen hat – und die gleichzeitig das Leben ihrer Tochter mit einer Entscheidung zerstört hat. Und das der Tochter ihrer Tochter damit gleich mitgeprägt hat. Die Person Vera basiert auf einer bekannten und hoch angesehenen Frau aus Jugoslawien, doch Grossman hatte alle Freiheiten der literarischen Umsetzung. Und so bleibt neben der bewundernswerten, mutigen Persönlichkeit Veras beim Leser der tiefe Eindruck zurück, den eine psychologisch dichte Erzählung zu spannenden Fragen hinterlässt: Wie weit wird das Leben von Entscheidungen, Erfahrungen, Demütigungen in früher Kindheit geprägt? Muss zwangsläufig auch die folgende Generation damit leben? Kann man sich je davon befreien? Wie?

David Grossman: Was Nina wusste. Dtv 2022, 14.- €

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Zuzugeben, dass man sich geirrt hat, selbst wenn man sich einer Sache noch so sicher war, ist nicht leicht. Das müssen einige in dieser Geschichte erkennen, allen voran Caitlyn. Wie sieht eine normale Schule aus? Was ist peinlich, unmöglich, nicht auszudenken und wieso? Und nicht zuletzt: Was ist ihr wirkliches Zuhause, wer ihr Freund*innen? Fragen, die sich plötzlich stellen, als Caitlyn und ihre Mutter umziehen in ein winziges Dorf und Caitlyn in einer siebten Klasse mit genau 11 Schüler*innen landet, die zudem alle auf einen gewissen Paulie Fink warten. Der allerdings nie auftaucht, sondern spurlos verschwunden bleibt. Keine der Regeln, die sie aus ihrer alten Schule kannte, scheinen hier zu gelten, und dass Paulie Fink offenbar eine Legende ist, der alle nachtrauern, macht ihr den eigenen Neuanfang nicht einfacher. Doch aufgeben geht nicht und davor, bitter und zynisch zu werden, retten sie die neuen Klassenkamerad*innen. Und so stürzt sie sich in das Abenteuer und nimmt die Suche nach Paulie Fink in die Hand...

Eine wunderbar einfallsreiche, ungewöhnliche Geschichte mit ebenso viel Tiefgang und Weisheit wie Spaß und Originalität!

Ali Benjamin: Die Suche nach Paulie Fink. Hanser Verlag 2020, 18.- €

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Eine fünfzigjährige Protagonistin, die an einem Wendepunkt angekommen ist, nachdem Mann und Sohn gegangen sind: Ein überraschendes Erbe wird ihr Leben in eine neue Richtung führen. Sie kündigt ihren sicheren Job in einem Institut, um ein Café zu übernehmen. In kurzen bis sehr kurzen Kapiteln erzählt, fabuliert, träumt, assoziiert, erfindet, phantasiert die Heldin in ihrem neuen Café von/über/aus ihrem neuen Leben. Das hauptsächlich darin besteht, die Gäste zu beobachten und zu beschreiben. Die Handlung ist überschaubar, die Charaktere bunt und vielfältig. Es gibt einen wichtigen Hund, einen geheimnisvollen Mann, eine tatkräftige Hilfe und viele schräge Menschen, die der Erzählerin alle mehr oder weniger wohlgesonnen sind. Vieles, was passiert oder was die Menschen, vor allem die Heldin, umtreibt, fließt übergangslos ins Phantastische, ein bisschen magischer Realismus schleicht sich ein. Und er steht der Protagonistin: Zwar hat sie die Entscheidung, das Café zu übernehmen, getroffen, doch von der ersten Minute an ist sie hilflos, traumverloren und naiv-unschuldig, ohne die bodenständige und tatkräftige Kasia wäre sie verloren. Sie macht, was man ihr sagt, sie ist eine Beobachterin, diejenige, der etwas passiert, nie die Zupackende. Sie hat Träume, manchmal ist sie hellsichtig und sie folgt immer ihrem Gefühl. Und sie wartet auf ihren Sohn Florian, der sie bestimmt finden wird, jetzt, wo sie immer im Café ist. Kleine und große Schicksale treiben durch das Café, alle sind gleich wertvoll und wichtig, an manchen nimmt sie teil, manche bleiben rätselhaft, andere ziehen weiter. Am Ende ist ein Jahr vergangen, eines der Pandemie-Jahre, und sie hat ihr Café etabliert und vielleicht ist am Ende Florian gekommen.

Das hätte ein Buch sein können, das mir so richtig gut gefällt. Doch es hat mich im Gegenteil eher geärgert. Und ich kann gar nicht genau sagen, warum. Manchmal ist es die Gesellschaft der Bücher, die man vorher und hinterher gelesen hat, die ein Urteil beeinflussen. Manchmal die eigene Stimmung, die Umstände, unter denen man das Buch gefunden hat, unter denen man es liest, wer es empfohlen hat oder ob einem der Einband gefällt: Alles fließt mehr oder weniger bewusst in das Urteil ein. Vorher habe ich Judith Hermanns Daheim gelesen, das war vielleicht zu ähnlich, auch eine fast fünfzig Jahre alte Frau, deren Mann und Kind fort sind und die einen Neuanfang versucht, auch hier spielen eine Affäre und ein Gegenpol in Form einer gegensätzlichen Freundin eine große Rolle. Und auch hier schon war die Stimmung träumerisch-innerlich. Dann kam Esther Beckers Wie die Gorillas und das war dermaßen anders, dass es krachte: erfrischend, sachlich, krass. Wie auch immer – und mir ist bewusst, dass ich dem Buch vielleicht Unrecht tue, denn, wie gesagt, es hätte mir auch echt gut gefallen können: Mit dieser weichgespülten Protagonistin und den sanft-lieblich-kuriosen Lebensschicksalen ihrer Gäste konnte ich jetzt gerade nichts anfangen.

Katharina Hacker: Die Gäste. Fischer Verlag 2022, 20.- €

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Von Anfang an wirkt die Starrköpfigkeit und Homophobie der Erzählerin - und Mutter der titelgebenden Tochter - befremdlich und schwer nachvollziehbar. Ist es eine Frage der Generation, der Kultur, der Gesellschaft? Gelten Aussagen wie die folgende auch für unsere westliche Familien-Kultur? „Ich habe das Recht, zu erleben, wie das Kind, das ich im Schweiße meines Angesichts großgezogen habe, ein normales und anständiges Leben führt." Wirklich? Woher? (abgesehen davon, dass man fragen darf, was ein normales und anständiges Leben denn ist. Genau das tut auch die Tochter an dieser Stelle). Auch nachdem man erfährt, wie knapp die Mutter über die Runden kommt, seitdem ihr Mann gestorben ist, wie sie schuftet und spart. Und jetzt muss die Tochter mit ihrer Freundin aus Not zur Mutter ziehen, das mag vielleicht eine Zumutung sein. Aber so viel Abwehr und Hass? Verwundert liest man daher, wie die Tochter sie damit konfrontiert, dass sie, die Mutter, ihr immer wieder gesagt habe, dass die Menschen alle unterschiedlich sind, und dass es gut so sei. Und man versteht: Das gilt nicht für die eigene Tochter. Dass diese lesbisch ist, ist eine Katastrophe: „Warum liebt meine Tochter Frauen? Warum quält sie mich damit (...)? Warum ist meine Tochter so grausam zu mir?" Es scheint so viel wichtiger, was die Nachbarn sagen, die Bekannten und Kolleg*innen, so alternativlos, dass man nicht auffällt, nicht anders ist als die anderen. Einmal wendet sich die Mutter sogar an die Freundin der Tochter, die sie sonst meidet, und fleht sie an: „Bitte mach meine Tochter, mein einziges Kind, nicht zur Außenseiterin. Lass sie ein unauffälliges und normales Leben führen, ohne dass jemand merkt, was sie ist oder nicht ist." Ja, sie sorgt sich um die Tochter, um ihre Zukunft, ihr Auskommen, kann sie selbst doch nichts dazu beisteuern. Dennoch: Schwer sich hineinzuversetzen, wie rückständig die Mutter fühlt und denkt, wie wenig Verständnis und Mitgefühl sie für die Tochter aufbringt. Gleichzeitig beginnt sie selbst in ihrer Arbeit als Altenpflegerin anzuecken. Sie folgt ihrem eigenen Credo – nicht auffallen, nicht widersprechen, nicht auf sich aufmerksam machen – nicht mehr, als ihre persönliche Patientin anfängt, unter den kaputtgesparten und unmenschlichen Bedingungen im Heim zu leiden. Und so laufen die beiden Teile ihres Lebens unweigerlich auf einander (und die Geschichte auf den Höhepunkt) zu, kumulieren zeitgleich, und lösen fast so etwas wie eine Katharsis bei der Mutter aus. Ein ausgesprochen interessantes Portrait eines kleinen Ausschnitts einer (vermutlich ungewöhnlichen) südkoreanischen Familie.

Kim Hye-Jin: Die Tochter. Hanser Verlag 2022, 20.- €

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Eine Diagnose hat ihr der Psychologe gegeben – Asperger – und eine Einladung zu einer Gruppe für autistische Jugendliche. Dann waren die Sitzungen vorbei und jetzt hat Fabienne noch ihr Tagebuch. Darin versucht sie, mit der Diagnose klarzukommen, sammelt Informationen zu Autismus und Asperger, aber auch eigene Erinnerungen, und erzählt vom Ende ihrer Beziehung zu Marco. Witzig, manchmal bissig, und hochinteressant. Dazu sehr toll illustriert!

Cornelia Travnicek/Michael Szyszka: Harte Schale, Weichtierkern. Beltz & Gelberg Verlag 2022, 15.- €

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Als Olga, Svenja und die Ich-Erzählerin sich die Busen abbinden, schreibt sie: Wir laufen im Quartier herum, und es fühlt sich wirklich gut an. Obwohl alles abgequetscht ist, sind wir frei.

Frei sein, so sein, wie man will, ganz man selbst sein können – darum geht es. Und es ist schwer als Mädchen, noch schwerer als junge Frau. Wie oft muss etwas abgequetscht werden, muss man sich beugen, fügen, richten, anpassen, wie oft still sein, nichts sagen oder besonders stark und laut und gut, um gehört zu werden. Das Leben stellt so viele Aufgaben und Ansprüche. Olga und Svenja wissen genau, was sie wollen, und kommen auf ihre unterschiedliche Art durch. Die Ich-Erzählerin ist verloren, das Leben lässt sich nicht greifen, es ist kein klarer Weg in Sicht, den sie nehmen könnte. Am Ende müssen die Eltern noch einmal anrücken und helfen, die Tochter auf die Beine stellen, auf den Weg bringen. Doch dieser Weg ist noch lange nicht klar. 

In einem distanziert-sachlichen Stil berichtet die Erzählerin das Alltägliche ebenso wie die außerordentlichen Ereignisse, den ganz normalen Wahnsinn eines Mädchens, das zur Frau wird, ebenso wie die krassen Erfahrungen genau dieser jungen Frau. Gerade die ungewöhnliche Zeitform des historischen Berichts, in der die Erzählerin am Ende einer Episode weiß und voraussagt, was weiter passieren wird, unterstreicht die Distanziertheit und ruft gleichzeitig den Eindruck von Wahrhaftigkeit hervor. Sehr interessant und lesenswert.

Esther Becker: Wie die Gorillas. Verbrecher Verlag 2021, 19.- €

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Fiona ist entsetzt: Ihre Mutter reißt sie doch tatsächlich aus ihrem geliebten Kölner Stadtleben und trennt sie von ihrer besten Freundin Charly, um zu ihrem Liebsten aufs Land zu ziehen! Nach Eppen, wo die Bewohner sich scherzhaft selber Deppen nennen, ha ha! Charly und Fiona entwickeln gemeinsam eine Strategie, die Fiona spätestens am Ende der Sommerferien wieder zurück nach Köln bringen soll. Doch dann kommt alles ganz anders...

Man ist auf das schlimmste gefasst, sobald man ahnt, dass Fiona entgegen ihrer Erwartungen das Leben auf dem Land toll findet: Lügen, Missverständnisse, Geheimnisse, Verrat und Streit. Doch Antelmann hat Erbarmen und stattet ihre Protagonistinnen mit Vernunft, Empathie Ehrlichkeit und der Fähigkeit zu kommunizieren aus. Uff, das tut gut!

Silke Antelmann: Mein Pampaleben. Ohne dich ist alles doof/Dorf. Fischer Jugendbuch Verlag 2022, 12.50 €

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Eigentlich unerhört: Kaum ist Neele aufgrund ihrer Windpocken mal zwei Wochen nicht in der Schule, dreht ihre beste Freundin Nour ihr den Rücken zu und freundet sich mit den dämlichen Pferdemädchen an. Wie kann das sein? Sie waren Blutsschwestern, ein super Team, die allerbesten Freundinnen?! Neele ist erschüttert und in der Schule weiß sie gar nicht, wohin mit sich. Jetzt könnte sie ihre Lieblingstante Fanny gut gebrauchen, mit der sie sich blendend versteht (ihre Eltern kommen da eher nicht in Frage). Doch der geht es gerade selbst so schlecht, dass sie nicht einmal mehr Bilder malen kann. Es ist Neele hoch anzurechnen, dass sie sich in ihrer eigenen Krise trotzdem um Fanny kümmert, sie besucht und versucht, sie aufzuheitern. Doch erst, als der Knoten mit ihrer Freundin Nour platzt, gibt es auch Hoffnung für Tante Fanny...

Wenn man nicht zu zimperlich ist was die Erwähnung von Fäkalien in der Geschichte angeht, folgt man Neele gerne durch diese wilde und aufregende Zeit und hat am Ende viel Sympathie und Respekt für die 11-Jährige.

Kristina Sigunsdotter/Ester Eriksson: Neele Nilssons Geheimnisse. Woow books 2022, 12.- €

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Immer enger wird Lises Welt, immer größer die Bedrohung von allen Seiten. Aus dem Haus geht sie schon lange nicht mehr, der Kontakt zu den Kindern ist sporadisch und impulsiv, ihren Mann Gert sieht sie selten, wenn er mal zu ihr ins Zimmer kommt. Schlafen möchte Lise viel, doch dafür braucht sie Tabletten. Die verteilt Gitte, die Haushälterin. Und sie ist es auch, mit der Lise spricht, von der sie sich belehren, einlullen, kommandieren lässt. Immer mehr verschwimmen die Grenzen zwischen dem, was Gitte und Gert sagen, und dem, was in Lises Kopf erscheint. Immer bedrohlicher wird das Leben, schwerer zu fassen, zu verstehen. Die Menschen scheinen mehrere Gesichter zu haben, viele passen nicht, sind verbraucht oder zu alt, zu groß, zu verwaschen. Und sie lügen, drohen, verschwören sich gegen Lise. Als Gert Lise erschüttert gesteht, dass seine Geliebte Selbstmord begangen hat, spürt sie, dass Gitte und er dasselbe auch von ihr erwarten. Und warum auch nicht? Schlimmer als ihr jetziges Leben kann es nicht werden, vielleicht bietet die Psychiatrie Schutz und Hilfe. Lise nimmt Tabletten und lässt sich umgehend einweisen. Doch ein Schutzraum ist die Klinik nicht, eher die Hölle. In ihrer Psychose gefangen wird Lise durchgehend gequält von den Stimmen ihres Mannes, Gittes, manchmal ihrer Mutter, ihren Kindern. All ihre Ängste manifestieren sich in den abgrundtief bösen Aussagen dieser Stimmen: die Angst davor, dass ihr Mann fremdgeht, ein Verhältnis mit ihrer Tochter hat, dass Gitte und er Lise umbringen wollen, dass der Arzt und alle Schwestern sie vergiften wollen, die Angst davor, alt, verbraucht, hässlich zu sein, die Angst, als Mutter zu versagen, und allem voran die Angst, als Schriftstellerin zu versagen und nicht mehr schreiben zu können. Wem kann sie noch trauen, was kann sie glauben, woran soll sie sich halten?

Wäre da nicht der hin und wieder leise aufblitzende Humor, die kurzen Momente der Selbstdistanz und die vielen Anspielungen auf ihr eigenes Leben und ihre Karriere als Schriftstellerin – die eindringliche, überzeugende Beschreibung dieser psychotischen Erfahrung wäre schwer auszuhalten. Sehr beeindruckend.

Tove Ditlevsen: Gesichter. Aufbau Verlag 2022, 20.- €

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Bis zum Schluss bleibt die 18-Jährige nur das Pizza-Girl, erst auf den letzten Seiten sagt die Person, die ihr Leben so grundlegend durcheinandergebracht hat, ihren richtigen Namen...

Durcheinander ist Jane allerdings auch schon vorher, bisher hat sie es jedoch sehr gut versteckt und hat stillgehalten, ausgehalten. Sie ist schwanger und sie liebt Billy, ihren Freund und Vater des Kindes. Ebenso wie ihre Mutter. Und beide, Billy und ihre Mutter, freuen sich wahnsinnig und aufrichtig auf das Baby. Jane nicht. Sie weiß nicht, was mit ihr los ist, nachts schleicht sie sich in den Schuppen und sitzt in dem Sessel ihres Vaters, einem schweren Alkoholiker, der ein Jahr zuvor gestorben ist, trinkt ein paar Dosen Bier, starrt auf einen Fernseher ohne Ton. Tagsüber jobbt sie in einem Pizza-Bringdienst und ist dankbar für jede Stunde Ablenkung. Billy ist rührend, Janes Mutter verständnisvoll und hilfsbereit – und doch will sie ihnen nur zurufen: Ihr beiden treibt mich in den Wahnsinn. Und schließlich tut sie genau das. Nachdem eine Frau, die telefonisch für ihren Sohn Pizza mit sauren Gurken bestellt hat, bei Jane einen Kurzschluss auslöst: Es ist Verliebtheit auf den ersten Blick, geradezu besessen ist Jane von Jenny, die fast doppelt so alt ist wie sie selbst, und lebt nur noch für die wenigen Momente, in der sie Jenny die Pizza bringt. Immer weiter steigert sie sich in die Sache hinein und geht davon aus, dass Jenny ähnlich empfindet. Weder Billy noch ihrer Mutter, keinem erzählt Jane, was in ihr vorgeht. Bis es zur Katastrophe kommt...

Sehr ungewöhnlich, wie krass und ehrlich Frazier die komplizierten, ablehnenden, ganz und gar nicht glücklichen Empfindungen der schwangeren Protagonistin beschreibt. Das entspricht so gar nicht der üblichen amerikanischen Darstellung, ist aber gerade erfrischend. Und dazu hat Frazier einen leisen Humor, der Spaß macht. 

Jean Kyoung Frazier: Pizza Girl. Kampa Verlag 2022, 22.- €

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Der Verlag gibt als empfohlenes Lesealter ab 10 Jahren an – aber ich würde meine Hand dafür ins Feuer legen, dass 12, 15, 25 und auch noch die meisten der über 50-Jährigen in diesem Buch unglaublich viel Neues erfahren, lernen und vielleicht sogar verstehen können. Mit dem Verstehen gab es bei mir ganz ehrlich schon bei den Babyloniern und ihrer Entdeckung der √2 die ersten Schwierigkeiten (also etwa 3000 v. Chr. und bereits im ersten Viertel des Buches), was dem großen Vergnügen bei der Lektüre der weiteren drei Viertel aber überhaupt keinen Abbruch tat. Es ist ungeheuer spannend und trägt erstaunlich viel zum (Gesamt-)Verständnis der Mathematik bei - und wird in der Schule wenig bis gar nicht behandelt – zu erfahren, wie sich diese Wissenschaft entwickelt hat! Uneingeschränkte Leseempfehlung für alle Mathe- und Nicht-Mathe-Fans!

Josif Rybakow, Marija Astrina, Natalja Jaskina: Mathematik: Die Geschichte der Ideen und Entdeckungen. Jacoby & Stuart Verlag 2022, 20.-€

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Was für ein aufregendes und wichtiges Tagebuch das wird, weiß Tuva noch gar nicht. Als sie es beginnt, am letzten Tag der Sommerferien vor der siebten Klasse, schreibt sie ihre Pläne und Vorhaben für das neue (Schul)Jahr hinein, zum Beispiel eine Übernachtungsparty mitmachen, das Tagebuch vollschreiben und vielleicht sogar sich verlieben. Doch dann beginnt alles ziemlich turbulent und immer komplizierter zu werden. Ihre besten Freundinnen Bao und Linnea zerstreiten sich, denn Linnea hat sich verliebt, was Bao total dämlich findet. Immer mehr Mädchen aus Tuvas Stufe scheinen entweder auf Linneas Linie zu sein – Mädchen, die sich verlieben, die reifer sind, sich manchmal schon schminken -, während andere wie Bao denken. Und Tuva? Muss sie sich entscheiden, auf welcher Seite sie steht? Sie wollte sich ja vielleicht sogar verlieben, aber reif ist sie deswegen irgendwie trotzdem nicht...

Toll gezeichnet, mit viel Humor, lebendig und abwechslungsreich erzählt Tuva von ihrem spannenden Schuljahr. Sehr angenehm ist auch Tuvas Vater (eine Mutter wird nicht erwähnt), der manchmal gute Ratschläge gibt, sich aber auch raushalten kann, Tuve in Ruhe lässt, wenn sie es braucht, oder Lasagne kocht und playlists für sie zusammenstellt. 

Nora Dåsnes: Regenbogentage. Klett Kinderbuch Verlag 2021, 18.- €

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Beispiele aus der Geschichte, aus Nationalsozialismus und Kommunismus, aber auch von Trump und Putin, dazu Erfahrungen und Gedanken von Victor Klemperer, Vaclav Havel, Hannah Arendt und vielen anderen: All das setzt Snyder zusammen zu eindringlichen Mosaiken, die - kongenial von Nora Krug illustriert -  seine zwanzig Lektionen erklären, belegen und dafür sorgen, dass diese im Grunde lebenswichtigen Verhaltensmaximen nachhaltig im Bewusstsein der Leser*innen haften bleiben. Pflichtlektüre für eigentlich alle!

Timothy Snyder/Nora Krug: Über Tyrannei. C.H.Beck Verlag 2021, 20.- €

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Wer kann denn in der vierten Klasse noch nicht richtig lesen? Finn ist überzeugt: nur dumme Kinder. Und ein dummes Kind wollen seine Eltern nicht haben, auch da ist sich Finn sicher, außerdem will er in seiner Klasse nicht ausgelacht und geärgert werden. Und so hat er seine Schwierigkeiten beim Lesen nie erwähnt, es ist sein großes Geheimnis, Zuhause und in der Schule. Und das soll auch so bleiben. Finns Strategie dafür: sich unsichtbar machen, nicht auffallen, unter dem Radar bleiben. Doch dann kommen seine Eltern auf die Idee, ein Pflegekind aufzunehmen, und bringen Yuki mit. Yuki ist genauso alt wie Finn – aber er ist das Gegenteil von unauffällig. Immer hat er einen komischen Spruch auf den Lippen, redet mit Steinfiguren, benimmt sich insgesamt sehr ungewöhnlich und behauptet allen Ernstes, dass er ein Elbenritter sei. Yuki muss unbedingt wieder verschwinden. Als Yuki Finn erzählt, was seine Mission ist in Finns Heimatstadt, sieht Finn eine Chance, wie er Yuki loswerden könnte...

Spannende, flotte Fantasygeschichte, die es schafft, ein ganz realistisches und ernstes Thema mit in das fantastische Abenteuer zu integrieren.

Thomas Möller & Sebastian Grusnick: Mein Bruder der Elbenritter. Dressler Verlag 2021, 13.- €

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Als Adichie von einem Freund als Feministin bezeichnet wird, schaut sie Zuhause erst einmal nach, was das Wort bedeutet. Und verrät es uns dann nicht! Sondern berichtet von ihren Erfahrungen als Kind in Nigeria, wo sie bereits in der Schule mit Ungerechtigkeiten konfrontiert wird, als junges Mädchen und Frau, erzählt von Erlebnissen ihrer Freundinnen in Nigeria, aber auch in den USA, denkt über ihre Großmutter nach und untersucht die Funktion von Geschlechterrollen, die sozialen Normen und die kulturellen Entwicklungen. Erst auf der letzten Seite verrät sie, welche Definition von Feminismus sie im Lexikon fand, und offenbart uns dann ihre eigene.

Die Adaption des TED-Talk-Textes zu einem kurzen Essay für Jugendliche ab ca 11 Jahren bringt es mit sich, dass der Text manchmal ein bisschen springt und assoziativ Gedanken aneinanderreiht. Doch das stört wenig, denn der Gesamteindruck überzeugt, die Beispiele sind gut gewählt, der Ton und die Sprache stimmen, und zusammen mit den tollen Illustrationen wird aus dem Buch ein gelungenes Jugendsachbuch, ebenso cool wie wichtig.

Chimamanda Ngozi Adichie: Warum ich Feministin bin. Sauerländer bei Fischer Verlag 2022, 14.- €

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„Was ist das für eine nervige Angewohnheit, alle Geheimnisse aufdecken zu müssen?" Wer das fragt, hat selbst einige davon: Maserati, 16, die mit ihrer Oma zusammen ein Café in einem kleinen Dorf in der Provinz führt und darüber die Schule schmeißt. Das ist vielleicht schon erklärungsbedürftig genug. Doch dann zieht eine neue Familie ins Dorf und die beiden schönen Jungs in Maseratis Alter, Caspar und Theo, stellen noch ganz andere Fragen. Zum Beispiel warum Maseratis Bild auf einer alten Schallplatte zu sehen ist. Erst wehrt Maserati ab, dann merkt sie, dass die beiden selbst auch Geheimnisse haben. Und sie fragt sich, ob sie die überhaupt wissen will, scheinen sie doch irgendwie unheimlich auch mit ihrem Leben zusammen zu hängen...

Auch der Roman erlaubt sich ein paar ungelöste Geheimnisse und Leerstellen bis zum Schluss – und darüber hinaus. Was ich große klasse finde, aber jugendliche Leser*innen haben da vielleicht andere Erwartungen. Insgesamt jedenfalls eine spannende Story, flott geschrieben, mit interessanten Protagonist*innen.

Alina Bronsky: Schallplatten Sommer. Dtv Verlag 2022, 15.- €

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Erst einmal muss man sich damit abfinden, dass einer der beiden Protagonist*innen eine Krähe ist, aber das ist ja bei Frida Nilsson öfter der Fall, dass die Held*innen in allen möglichen Erscheinungsformen auftreten. Hat man sich darauf eingelassen, kann man sich auf eine wilde und abenteuerliche Reise freuen. Denn Ebba und Krähe machen sich auf den Weg an die schwedisch-norwegische Grenze, um Krähes Eltern zu finden, die er früh verloren hat. Sie versuchen, in LKWs mitzufahren, leihen sich ein Floss, finden eine Mitfahrgelegenheit in einem Sportwagen und einer Draisine. Manchmal geht es in die falsche Richtung und ungefährlich ist es auch nicht immer. Aber spannend!

Krähe erinnert ein bisschen an Karlsson vom Dach: auch nicht unbedingt immer sympathisch, sehr spontan, manchmal eigensinnig, selbstverliebt und in aufregenden Situationen ein ziemliches Zappelhuhn. Doch Ebba liebt ihn. Und wundert sich dann doch, wie verändert Krähe auf einmal ist, als sie in Norwegen sind. Plötzlich scheinen seine Eigenarten normal zu sein - und seit wann ist Krähe gesellig und charmant? 

Nilsson versteht sich nicht nur auf spannende Abenteuergeschichten, in denen sie ihren Protagonist*innen einiges zumutet. Sie kann auch ganz hervorragend Stimmungen, Gefühle und Lebensweisheiten beiläufig und unaufdringlich in die Geschichte einbauen. Ohne dass man es merkt, liest man eine großartige Geschichte über Freundschaft, Akzeptanz und die Freude über das Glück, wenn der oder die andere glücklich ist. Erstaunlich: Sommer mit Krähe ist schon fast 20 Jahre alt und Nilssons erstes Buch!

Frida Nilsson: Sommer mit Krähe. Gerstenberg Verlag 2022, 14.- €

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